Die Krimis um Kassandra Schwarz

Kassandra Schwarz ist eine normale junge Frau, die ein normales Leben lebt, Stärken und Schwächen hat wie alle, zum Beispiel eine Schwäche für ihre Katze Katerchen, der sie besondere Fähigkeiten attestiert, die sie manchmal bestätigt, manchmal auch nicht, oder ihre Launen, die sie manchmal in absurde Situationen bringen. Aus so einer Laune heraus hat sie sich in die Wohnblock-Provinz verpflanzt, vielleicht einfach weil sie von einer Wohnung aus die Altstadt, den Fluss und die Berge sah. Ihre Kolleginnen verstehen das nicht, so wie sie auch nicht verstehen, dass Kassandra hinter allen möglichen alltäglichen Situationen das Besondere, das Abgründige, das Unwahrscheinliche vermutet. Und meistens treffen ihre Vermutungen auch zu und sie begegnet menschlichem Tun jenseits von gesellschaftlichen Konventionen, sogenanntem Verbrechen. Ihre Freundin Luzia ist in solchen Situationen eine zuverlässige Unterstützung.

Die Figur der Kassandra Schwarz hat keine reale Entsprechung in unserer Welt. Verschiedene der Ereignisse, in die sie verstrickt ist, könnten so oder in ähnlicher Form jedoch durchaus geschehen sein. Die Figur entstand im Rahmen eines Entwurfes für eine Hörspiel-Semesterarbeit.

 

Feuer

Ein Fall für Kassandra Schwarz (6)

1

„Entschuldigung – haben Sie mir Feuer?“ Kassandra fuhr erschrocken herum, für Sekundenbruchteile sah sie ein Gesicht. Dann schrie aus dem Irgendwo eine harte Stimme: „Nein – tun Sie’s nicht!“ und zugleich nahm sie schwach einen stechenden Geruch wahr: Benzin! Das Gesicht vor ihr nahm einen erstaunten Ausdruck an und irgendwie schien es Kassandra, als würde der andere aus einem schlechten Traum erwachen, einen derart verwirrten Ausdruck musste man haben, wenn man gar nicht mehr wusste, wie einem geschah. „Aber“, begann er, doch da heulte schon eine Sirene heran und Puppenfiguren in schwarzen Anzügen mit geschlossenen verdunkelten Helmvisieren stellten sich breitbeinig auf. Wieder bellte die Stimme: „Weg da! – Hände über den Kopf!“ Der Mann vor ihr, da war sich Kassandra sicher, wusste nicht, wie ihm geschah. Bevor er irgendetwas tun konnte, hatten ihn die Schwarzgekleideten schon gepackt und zwangen seine Hände auf den Rücken. Wieder begann er zu stottern, blickte um sich wie ein Erwachender und schnupperte dann. „Was ist das, dieser Gestank?“ Einer der Uniformierten lachte höhnisch auf: „Wirst du wohl selbst am Besten wissen, was?“ „Ich?“ flüsterte der Mann, „warum ich?“ Kassandra sah sein graues Gesicht, den stoppeligen Dreitagebart und eine Müdigkeit, die es älter erscheinen liess, als der Mann vermutlich war. „Was ist geschehen?“ fragte sie und stemmte sich gegen die Uniformierten, die sie zur Seite drängen wollten. „Ein Alptraum“, sagte der andere schleppend, „ weg ist sie, einfach weg!“ Er war zu schlaff, um irgendeinen Widerstand zu leisten und zwei Beamte schleppten ihn auf einen weissen Kastenwagen zu, der mit blinkendem Blaulicht mitten in dem Quartiersträsschen stand. Beim Haus begannen Feuerwehrleute Pulver auf Benzinspuren zu streuen und trugen triefende Tücher und Holzstücke aus dem angebauten Schuppen.

Das Haus war eines dieser älteren Kästchen, wie man sie in den Dörfern rund um die Provinzstadt überall antraf. Gebaut damals, als auch Arbeiter und Angestellte erstmals etwas mehr Geld verdienten, als sie zum Leben unbedingt brauchten. Kassandra war aus Zufall in das Quartier geraten, wobei sie ihrer Freundin Luzia gegenüber, die sie bei ihren Erlebnissen oft begleitete und unterstützte, immer wieder betonte, dass das Wort Zufall in ihrem Wortschatz eigentlich nicht vorkam. „Es ist einfach so,"  pflegte sie zu sagen, „dass ich manchmal dort durchkomme, wo es mich braucht. Und zwar meistens im richtigen Augenblick.“ Denn war sie nicht gerade vor dem typischen Gartentor aus altersgrauen Holzlatten vorbeigekommen, als dieser Mann hier nach einem Grund suchte, den Augenblick des Unterganges hinauszuzögern? Denn es präpariert ja keiner sein ganzes Hab und Gut sorgfältig und planmässig auf Vernichtung, ohne nicht auch das Mittel für die Auslösung, in diesem Fall ein Feuerzeug, dabei zu haben. Kassandra runzelte einen Moment die Stirn und ging auf den Kastenwagen zu, bei dem die beiden Beamten gerade dabei waren, die Schiebetüre hinter dem Brandstifter zu schliessen. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, schob sich eine bekannte, massige Gestalt um den Wagen herum: „Sieh einer an, die Schwarz!“ der Zivilist hob die Hände über den Kopf, „ natürlich ist die Schwarz auch schon wieder da! Überall dabei wo’s Ärger gibt, was? So ein Zufall!“ „Zufall gibt es nicht, das solltest du mittlerweile wissen“, sagte Kassandra ungerührt und musterte Sutter, denn natürlich hatte sie den Polizeipräsidenten, der so etwas wie ihr bester Feind war,, sofort erkannt. „Mir scheint allmählich, als stimme hier irgendwas nicht ganz““ sagte sie. Sutter verdrehte die Augen. Diese Strophe kannte er zur Genüge und es hatte, schien ihm, zu viele Ereignisse gegeben in der Vergangenheit, bei denen Kassandra zu seinem Leidwesen am Ende damit recht gehabt hatte. „Na hören Sie – hör mal“, fuhr er auf. Er hatte sich noch nie recht an das ‚Du’ gewöhnen können, das letztlich nur aus der Bekanntschaft seiner langhaarigen Katzenschönheit Eveline mit Kassandras Katerchen resultierte, aus der einige, zu seinem Ärger nicht wirklich rassenreine Nachkömmlinge entstanden waren, bei deren Unterbringung ihm Kassandra freundschaftlich zur Hand gegangen war. „Hör mal“, sagte er etwas leiser, „einen klareren Fall gibt’s ja wohl gar nicht, ja? Ein Mann ist verzweifelt, weil seine Partnerin, sogar seine Ehefrau, mit der Hälfte des Mobiliars und was weiss ich sonst noch allem zu einem andern zieht, er präpariert das Haus und alles drum und dran mit Benzin und fragt auch noch eine Passantin nach einem Feuerzeug!“ „Eben,“ sagte Kassandra, „und welche Erklärung gibt es denn dafür?“ „Wofür?“ ereiferte sich der Polizeipräsident. „Na,“ sagte Kassandra, „dass er das Feuerzeug nicht auch bereit gemacht hat!“ Sutter runzelte die Stirne und holte Atem.

Im Hintergrund erblickte Kassandra immer mehr Menschen, die sich um das Geschehen drängten, Handys, die in die Höhe gereckt wurden und sie hörte das übliche Gemurmel, wenn Leute über ein sensationelles Geschehen die neusten Erkenntnisse austauschen. Es waren wohl zumeist Nachbarn, genau der Typ Leute, die in diesen Häuschen mittlerweile wohnten, einfache Angestellte und kleine Beamte, ein Gemisch aus Alltagsmief und schlechtem Kleidergeschmack. Nur eine Ausnahme erblickte Kassandra einen Augenblick lang: Ein smarter Anzug, sorgfältige Krawatte und ein gepflegtes Gesicht. Nur Sekundenbruchteile lang trafen sich ihre Augen, dann war der andere wie eine Erscheinung verschwunden. Für einen Moment nahm Kassandra noch einen zweiten bekittelten Rücken wahr und es schien, als würde er den andern decken wie ein Leibwächter. Kassandra machte einen Schritt gegen die Menge hin, da trat einer der Beamten herzu, in der ausgestreckten Hand ein rotes Feuerzeug. „Was soll das?“, bellte Sutter. „Haben wir dort gefunden“, sagte der Beamte, reckte die Brust und wies auf die Granitplatte, die einen der beiden Betonpfosten der Gartentüre deckte. Und nun bewies der oberste Polizist, dass er eben doch kriminalistisches Wissen hatte: „Und Sie packen es einfach so mit Ihren Pranken?“ brüllte er, „was sind denn Sie für ein Depp!“ Der kleine Beamte schrumpfte förmlich zusammen: „Ich dachte – ich wollte-„ stammelte er. „Nichts dachten Sie!“ donnerte Sutter, „Bürgisser!“ schrie er und einer in einem weissen Overall, der in der Nähe des Hauses stand, drehte sich um: „Ja?“ Er kam näher. „Sehen Sie zu, was Sie damit noch machen können“, knirschte der Polizeipräsident, „oder ob der Trottel hier sämtliche Spuren vernichtet hat.“ Der Mann im weissen Overall holte ein Plastikbeutelchen aus der Overalltasche und hielt es dem Polizisten geöffnet hin, aber er musste dem verdatterten Mann noch mit einer Handbewegung deutlich machen, was er von ihm erwartete. „Anfänger“, knurrte Sutter und drehte sich wieder dem Bus zu, bei dem die Schiebetüre geöffnet worden war. „Keine Spuren von Benzin“, sagte ein zweiter im weissen Overall und deutete auf den bleichen Mann, der apatisch auf der Rückbank hockte. „Na,“ sagte Kassandra, „das riecht mir nun aber nicht nach einfacher Lösung!“ Der Polizeipräsident schnaufte geräuschvoll durch die Nase. „Nur nicht gleich aufplustern“, sagte er ärgerlich, „du musst zugeben, ein komischer Kauz, präpariert sein Haus, zündet es aber nicht an, ruft trotzdem die Feuerwehr, sagt, er habe soeben sein Haus angezündet, weil ihn seine Alte – ‚tschuldigung“ unterbrach er sich nach Kassandras Blick auf den Bleichen, der aber keine Bewegung zeigte, „weil ihn also seine Frau verlassen habe, fragt aber dann die erste beste Passantin nach einem Feuerzeug. Das ist doch Bullshit, das macht doch alles keinen Sinn!“ „Eben“, meinte Kassandra, „sag ich doch schon lange!“ Sutter setzte zu einer harschen Entgegnung an, hielt aber dann inne und musterte Kassandra plötzlich misstrauisch: „Was haben Sie – äh, was hast du eigentlich hier gemacht, hä? Ist doch ein seltsamer Zufall, nicht?“ „Mein Motto,“ sagte Kassandra, „immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und mir scheint, hier bin ich gerade noch rechtzeitig da – kommen Sie,“ sagte sie zu dem Mann im Bus, „mir scheint, Sie brauchen einen richtig harten Espresso nach alledem hier!“ Allerdings war eher sie es, die seit einigen Minuten das starke Verlangen verspürte. Espresso half ihr immer, wenn die Angelegenheiten verworren wurden. „Irgendwo in diesem Kaff wird es ja wohl eine Beiz geben!“ „Moment mal!“, Sutter schoss auf, „der Mann kommt erst mal mit uns, da ist noch gar nichts klar – „ „Du kriegst ihn schon“, sagte Kassandra und legte die Hand auf Sutters Schulter, der ärgerlich fauchte und so tat, als sei die Geste ein zufälliges Zusammenstossen gewesen. „Versprochen," schob Kassandra nach und amüsierte sich innerlich. Dann zog sie den Mann am Ellbogen aus dem Bus, schob ihn zwischen den starren Beamtenfiguren hindurch das Strässchen hinunter. Sie hörte befriedigt, wie der Polizeipräsident seine Beamten anknurrte. Es war seltsam, aber Sutter und seine ganze Bande verstärkten den kleinbürgerlichen Alltagsmief des Häuschenhaufens hier so sehr, dass es Kassandra förmlich den Atem abstellte.

2

„Ich verstehe gar nichts mehr“, sagte der Mann leise, als man im Bären sass, dem Landgasthof unten an der Strasse, den ihr Begleiter auf Kassandras Frage hin genannt hatte. Kassandra schwieg vorerst. Immer noch der beklemmende Mief. Die Wirtin und zwei Nachmittagsbiergäste musterten sie mit einer Mischung aus Neugier und Gleichgültigkeit. Die Wirtin brachte die zwei Tassen. „Zum Wohl“, nuschelte sie, ohne dass man die Worte verstanden hätte. Kassandra zog den Espresso in einem Schluck runter. Er war schal und lauwarm. Wie alles hier, dachte Kassandra und seufzte innerlich, auch die Ereignisse fühlten sich irgendwie lauwarm an und auch dieser Mann, als hätte der ganze Mief auf ihn abgefärbt. Man müsste hinter dieses ganze Grau kommen, dachte Kassandra und musterte das bleiche Gesicht, das nun aber nicht mehr grau war sondern irgendwie wacher, als hätte ihn das Ganze doch eher aufgerüttelt. „Ich frage mich – „ begann der andere, aber Kassandra fiel ihm ins Wort. „Moment mal, der Reihe nach“, sagte sie und wandte sich gegen die Theke hin, „ein Bier!“ rief sie und winkte der Serviererin, die jetzt am Tisch der Nachmittagsgäste sass. Ein Bier? Das Tüpfi zog die Augenbrauen hoch. „Genau,“ sagte Kassandra, „ein richtiges Bier!“ Der Bleiche kicherte: „So ist das hier, immer ist das so!“ Kassandra musterte ihn interessierter. Sie schien die richtige Schiene gefunden zu haben. „Der Name“ murmelte sie und der andere blickte sie erstaunt an. „Na, Ihr Name mal zuerst“, sagte Kassandra, „das andere kommt dann schon!“ Der andere nickte, Klaus, sagte er, Klaus Bisegger, er sei eben einer aus dem Osten des Landes, ein Zugezogener, ein Fremder vielmehr. Und Kassandra nickte. Sie kannte das. Man konnte Jahrzehnte hier in diesen Käffern wohnen und man war trotzdem immer ein Fremder, einer, der nicht dazugehörte. „Kassandra“, sagte sie, „Kassandra Schwarz, auch fremd hier“. Der andere nickte, dann wisse sie ja ein wenig wie es sei. Kassandra blickte auf: „Und Ihre – ich meine deine Frau, sie ist eine Hiesige?“ Das Tüpfi stöckelte heran und polterte das Bier auf den Tisch, Kassandra schaute sie mit dem süssesten Lächeln, das ihr gegeben war, an: „Verbindlichen Dank!“ Die andere schnaubte, reckte ihr Kinn hoch und warf sich wieder auf den Stuhl am Tisch der Nachmittagsgäste. Bisegger nickte. Eine wirklich Hiesige sei sie, hier geboren, zur Schule gegangen, einfach alles. Sie habe immer dazugehört während er... Kassandra nickte: Das sei sicher nicht immer einfach gewesen. Der andere starrte mit leeren Augen in die Gaststube. Am Anfang sei das kein Problem gewesen, sagte er tonlos, aber dann sei sie mehr und mehr wieder mit den alten Freunden unterwegs gewesen. Er habe es auch versucht, aber er sei sich immer vorgekommen wie das fünfte Rad am Wagen.

Die Gaststube blieb leer. Das Tüpfi am Biertisch lachte hin und wieder schrill auf, es schien, dass sich die beiden Bierhöckler über den blassen Mann und die Rothaarige lustig machten, aber Bisegger merkte nichts davon. Alle die Bilder zogen wohl wieder vor seinem inneren Auge vorbei. Kassandra konnte sie sich ungefähr vorstellen, sie sah das junge Paar neu in das Haus eingezogen, alles war noch frisch, ungewohnt, aufregend auch ein wenig, dann kamen wohl Kinder, Bisegger hatte nichts davon gesagt, aber man hatte die Spuren noch gesehen beim Haus, eine halbverfallene Baumhütte in dem riesigen Nussbaum, eine alte Schaukeleinrichtung, Kassandra dachte an das Lachen, an die spielerischen Tage draussen in der Sonne, sie sah den Alltag ablaufen, Tag nach Tag, die Gewohnheiten, welche die Farben rauswuschen aus den Tagen, Grau machte sich breit, Langeweile. "Ja," sagte Bisegger, als würde er die Gedanken hören, "ja, gestritten haben wir uns dann auch, und schlimmer noch: Geschwiegen, tagelang haben wir uns angeschwiegen!" Dann war die Frau den alten Freunden wieder begegnet, Stücke der alten, unbeschwerten Jugend kamen zurück, farbig war das, wieder ein wenig aufregend, vielleicht, nein sicher war auch eine alte Verliebtheit wieder aufgebrochen, ob jetzt echt oder nur eingebildet, jedenfalls war wieder ein Reiz in ihr Leben zurückgekehrt. Und eines Tages - "Überraschend war es nicht," sagte Bisegger, "sie hat es angekündigt, schon vor einem Jahr. Es muss einer aufgetaucht sein, sie hat es nie ganz genau geäussert, aber ich dachte mir schon sowas. Aber dann, wenn es soweit ist...." Kassandra sah es vor sich, der Mann, der nach Hause kommt und plötzlich ist da eine Leere, niemand mehr da, mit dem man reden kann. "Die Hälfte der Möbel weg, " sagte Bisegger leise, "du hast dir das nie so vorgestellt, hast nicht gedacht, dass sie das wirklich tut, nur noch eine Anbauecke des Sofas ist in der Ecke, kein Tisch mehr, ein paar Geschirrstücke hat sie dir dagelassen, das nötigste Besteck, eine Pfanne!" Kassandra schaute den andern fest an: "Und da wurdest du wütend und dachtest daran, dass es besser wäre, wenn alles - " sie machte eine wischende Handbewegung. Der andere schaute sie überrascht an: "Aber nein - doch, "stotterte er, "ich meine - " "Ja was jetzt," sagte Kassandra, "nein oder doch?" "Klar kommen dir solche Gedanken," sagte Bisegger, "zuerst schon, ich bin auch hinunter in den Schuppen, aber dann hab ich da den alten Tisch gesehen und da kam sowas wie ein Trotz in mir hoch. Jetzt erst recht, hab ich gedacht!" "Und du hast nicht den Kanister genommen - " "Aber nein!" Bisegger verwarf die Hände, "Ich hätte ja gar keinen gehabt, wir hatten kein Auto und nur einen Elektromäher für die Wiese!" Er starrte Kassandra an: "Du denkst doch nicht etwa..." Kassandras Telefon schnurrte. "Entschuldige," sagte sie und hob des Kästchen ans Ohr. "Ja?" sagte sie, dann nichts mehr, nur ihre Miene wurde immer düsterer. "Klar", sagte sie schliesslich, "hab ich dir doch versprochen!" Sie legte das Kästchen neben sich auf den Tisch und starrte in die Gaststube: "Ein Bier!" rief sie schliesslich zum Tisch hinüber, an dem jetzt mehrere Leute sassen und zu ihnen hinüber schauten. "Zwei?" fragte Bisegger schüchtern und sie nickte: "Zwei!" rief sie und zu Bisegger gewandt fuhr sie fort: "Wirst es brauchen!" Der andere duckte erstaunt den Kopf. Er hatte keine Ahnung, da war sich Kassandra sicher. "Als du in dem Schuppen warst - hast du da nichts gehört oder gerochen?" "Gerochen?" fragte Bisegger, "ist mir nicht aufgefallen, es roch wie immer, nach moderiger Feuchte und Mäusepisse, hab mich noch gefragt, ob der Tisch das nicht schon zu sehr aufgesogen hat." "Und gehört?" fragte Kassandra. Der andere zuckte die Achseln: "Na ja, irgendwas ist weggerumpelt, als ich das Tor aufschob, aber da sind immer fremde Katzen rumgeschlichen, wir hatten ja auch eine eigene, die hat sie aber mitgenommen." "Eine Katze - na ja, " sagte Kassandra, "nur pflegen Katzen in der Regel nicht Menschen zu erschlagen!" "Menschen erschlagen?" der andere wurde wieder grau im Gesicht, was das denn heissen solle. Kassandra deutete auf das Telefon: "Das war der Polizeipräsident, er ist ein bisschen - hmmm, sagen wir besorgt: Man hat einen Toten gefunden in deinem Schuppen, fein säuberlich mit Benzin getränkt!"

Die Serviererin kam mit dem Tablett herangeschlurft und stellte die hohen Gläser mit einer verächtlichen Geste auf den Tisch. Hatte sie etwas mitbekommen? Etwas wie Erstaunen trat in ihren leeren Blick. "Danke", sagte Kassandra und schaute sie fest an. Die andere hob die Schultern: "ZumWohlsii" nuschelte sie und zog ab zu ihren Stammgästen, wo sie mit schrägen Blicken zum Tisch der beiden hin sofort loslegte. Kassandra starrte auf das Glas, an dem noch feuchte Wassertropfen hingen und langsam nach unten glitten. Ein Toter! Und jetzt bringst du mir sofort den Mörder her! hatte der Polizeipräsident gebrüllt. Natürlich wäre sie dann aus dem Spiel. Man musste mehr zum Umfeld herauskriegen, aber das ging nicht, wenn die Hauptperson dort im Präsidium im Vernehmungsraum sass, zu dem Kassandra natürlich keinen Zutritt hatte. Sofort! hatte Sutter gebrüllt! Ich schicke eine Streife vorbei! "Das kann nicht sein!" Bisegger schüttelte den Kopf. "Hör mal", sagte Kassandra, "wir brauchen noch ein wenig Zeit, aber die kriegen wir nicht von Sutter!" Der andere schaute auf. "Sie holen dich hier gleich ab, rasch, wo treffen wir uns?" Der andere sah verwirrt auf: "Aber ich denke - " "Rasch", sagte Kassandra, "du gehst gleich auf die Toilette - der Schuppen hier wird ja wohl einen Hinterausgang haben?" Bisegger blieb dumm und stumm hocken. "Los jetzt", sagte Kassandra, "sonst bist du geliefert!" "Aber warum..." Bisegger erhob sich zögerlich. "Wo?" drängte Kassandra. Der andere dachte viel zu lange nach. "Auf dem Inseli", sagte er schliesslich zögerlich und Kassandra nickte, "na endlich - wo ist das?" "Im Flüsschen, auf halbem Weg der Stadt zu - in der starken Biegung, du musst - " "Find ich", sagte Kassandra, "hau jetzt ab, höchstens fünf Minuten kann ich dir geben!" Endlich schlurfte der andere gegen die Toilette zu. "Und deine Tasche?" zischte Kassandra hinterher. Bisegger hob beide Hände: "Sorry, liegt noch im Polizeibus!" Kassandra stöhnte auf, auch das noch! Sie schob hastig eine Banknote über den Tisch, der andere nahm sie zögerlich, dann schob er endlich ab. Keine Sekunde zu früh. Kaum war die hintere Türe zugeklickt, hörte man draussen eine Sirene näher kommen. Typisch, dachte Kassandra, die fahren noch mit Blaulicht zum Kaffee! Dann polterten auch schon zwei Uniformierte in den Gastraum, blickten sich kurz um und kamen dann auf Kassandra zu. "Wo ist er?". Betont langsam hob Kassandra den Kopf: "Guten Tag, erst mal", sagte sie und blickte die beiden herausfordernd an. "Ja, ja," sagte das uniformierte Jüngelchen, dann wies er auf den leeren Stuhl vis-à-vis von Kassandra, "wo ist er?" "Na", sagte Kassandra, "was denkt ihr denn? Auch ein Verdächtiger ist nur ein Mensch!" Sie wies nach hinten: "Toilette!" sagte sie. "Was? Sie haben also den Mörder - " "Den Verdächtigen!" blitzte Kassandra ihn an, "noch ist nichts bewiesen!" Der zweite Beamte war ein älterer, eher ruhigerer Typ. "Kommen Sie, Frau Schwarz," sagte er, "wir kennen uns doch! Was haben sie ihm geraten?" Kassandra schüttelte den Kopf: "Nein, Meier, so einfach kriegen Sie mich nicht! Ich hab ihm gar nichts geraten - er musste auf die Toilette und ich sah keinen Grund, es ihm nicht zu erlauben!" "Los, Habegger," sagte der Ältere, „den kriegen wir noch!“ Der andere schaute verwirrt. "Warum kriegen? Ich denke er ist auf der Toilette?" "Du denkst zuviel," sagte Meier, "und Sie", er wandte sich an Kassandra, "Sie informieren Sutter gefälligst selbst, an Ihrer Stelle möchte ich nicht sein!" Kassandra nickte: "Ich bin es gewöhnt." Dann wählte sie die Nummer des Polizeipräsidenten.

3

"Ich hab gleich gewusst, dass es ein Fehler war!" Sutter schob Aktenstücke in strategische Positionen auf seinem sonst blanken Schreibtisch. Immer wieder fragte sich Kassandra, ob das echte Spielzüge eines unbekannten Spiels seien oder zufälliges nervöses Gehabe. "Ich würde mal noch nichts übertreiben", sagte Kassandra, "er weiss mehr als wir und vielleicht führt er uns sauf die richtige Spur." Alle Stapel wurden mit einem Wisch nach rechts verschoben. "Und wie, bitte sehr, sollen wir seine Spur aufnehmen?" Kassandra griff in die Jackentasche und warf ein Zettelchen ins Aktenstapelspiel. "Handyortung zum Beispiel?" Sutter griff hastig nach dem Zettel, aber Kassandra hielt ihre Hand drüber: "Wie heisst der Tote?" Sutter starrte auf den Zettel und Kassandras Hand: "Ich weiss nicht, ob ich Ihn - ob ich das bereits sagen darf!" "Nun, dann eben nicht", sagte Kassandra und zog das Zettelchen wieder zu sich heran. "He", sagte der Polizeigewaltige und schob hastig einige der Aktenstapel nach links, "nicht gleich stümperig werden, das ist überhaupt eine ärgerliche Angewohnheit von Ihn - äh, von dir, immer gleich dieses Einschnappen!" Er schnaubte und mass mit gekniffenem Blick die Aktenstapel, rückte sie ein ganz klein wenig in eine akkurate, nur ihm bedeutsame Anordnung. Kassandra schwieg. "Lauffer", brummte Sutter schliesslich und knallte zwei Aktenbündel aufeinander, als hätte er damit einen entscheidenden Punkt erzielt. Kassandra hob eine Augenbraue: "Ja? Und weiter?" "Hab ich mir doch gedacht," knurrte Sutter, "kennt noch nicht mal alle Leute hier, aber trotzdem immer die grosse Klappe!" Er machte eine Pause und schaute wichtig drein: "Notar und Rechtsanwalt, grosse Nummer, Stiftungsratspräsident von hier, dort und überall und so weiter. Alte Familie, seit Urzeiten Bürger!" "Oha", sagte Kassandra, "da wird's wohl was geben!" "Natürlich", fuhr der andere auf, "natürlich wird's was geben! Und du lässt den Mörder laufen!" "Sachte", sagte Kassandra, "bloss mal langsam, ja? Bis jetzt gibt es nicht den kleinsten Beweis - oder hat dein Spezialistenheer schon was rausgebracht?" "He," sagte Sutter und schob alle Akten zu einer schweren Mauer gegen Kassandra hin zusammen, "es ist erst eine knappe Stunde her, ja? Und jetzt los, du bringst mir den Kerl, dann will ich nochmals ein Auge zudrücken!" "Ist ja gut", sagte Kassandra und stand auf, "ach ja, und hier ist seine Nummer! Nur für den Fall, dass sein Telefon nicht sowieso schon bei euch ist!" Und schon war sie zur Türe hinaus, bevor Sutter das Aktenspiel in ein Ballergame verwandeln konnte.

So sehr Kassandra das Kleingeistige, das Miefige der Gegend hasste, so sehr liebte sie dafür den Geruch der freien Landschaft dort, wo die staubigen Finger der Bewohner nicht hinreichten. Manchmal, auch wenn sie ihr ausserhalb der Ortschaften begegneten, kamen sie ihr vor wie Gespenster. 'Halbtote', sagte sie zu Katerchen, wenn sie ihnen auf ihren Spaziergängen begegneten. Starre Blicke, graue Haut, wie Mumien sahen sie bisweilen aus und alles, was sie berührten oder auch nur anschauten schien sich mit einem grauen Schleier zu überziehen, in Trostlosigkeit zu erstarren, der Verwesung, dem Tod näher als dem Leben. Nun, einer von ihnen, ein Notar, war nun wirklich tot – und ein Auswärtiger sollte der Mörder sein...

Kassandra hatte den Weg entlang dem Flüsschen genommen. Der ursprüngliche Trampelpfad, der sich immer zum Wasser hin und wieder weg bewegt hatte, sich zwischen den krummen Stämmen der Uferbäume und den Büschen hindurchgewunden hatte wie das Wasser selbst, war vor kurzem durch einen Schotterweg ersetzt worden, der sich zwar noch immer kurvig gab, aber ebenso zu einem Zombie verkommen war wie die Hundehalter, die den Weg als ihr Territorium betrachteten, von ihren Tieren markieren liessen und alle andern Passanten als Eindringlinge taxierten. Erst weiter gegen das Dorf hin, auf halben Weg etwa zur kleinen Stadt, dort wo sich das lächerliche Flüsschen in einer Windung in den Wald hinein versteckte und zu einer rechtwinkligen Biegung ausholte, um zwei kleinere Steine herum stob, die sich als richtige Felsen ausgaben, hinter denen sich im ewigen Drehen des Hinterwassers allerlei Treibgut ansammelte, erst dort zweigte von dem Feldweg ein kleiner Trampelpfad zum Wasser hin ab und aufatmend schlüpfte Kassandra in die Lücke zwischen den Büschen.

Grünliches Halbdunkel umfing sie sofort. Eine moosige Mauer grenzte das Wasser ab, das hier leise plauderte, kurz rauschend in einem Wortschwall sein Herz ausschüttete, danach aber ganz verstummte und schwarz und still eine Insel einschloss, die menschenhoch mit Kraut und Brombeeren überwachsen war. Auf der andern Seite stieg der Wald wie eine sauber gefegte Säulenhalle an der Hügelflanke hinauf. Kassandra schnupperte: Holzrauch! Aber wie zum Teufel kam man auf diese Insel, die Bisegger wohl angesprochen hatte? Schwarz glitt das Wasser unterhalb der moosigen Mauer vorbei, wie an unsichtbaren Fäden aufgereiht strebten kleine Blättchen einem unbekannten Ziel zu. Kurz strauchelten die gelben Punkte, dann zogen sie wieder geruhsam weiter. Kassandra runzelte die Stirne: Das Straucheln geschah immer exakt an derselben Stelle und nun nahm sie eine etwas dunklere Fläche knapp unter dem Wasserspiegel wahr. Das musste eine Art Trittstein sein. Da gewahrte sie auch schon an der moosigen Mauer einen vorspringenden, abgewetzten Stein. Kurz schaute sie sich um, dann war sie schon auf dem kleinen Vorsprung, duckte sich, nahm eine Schrittlänge nach dem ersten einen zweiten Trittstein unter dem Wasser wahr und schon machte sie zwei entschlossene, hüpfende Sprünge und schob die kurz aufblinkende Warnung, dass die Steine wohl glitschig sein könnten, unbewusst zur Seite. Zwar rutschte sie tatsächlich mehr, als dass sie auftrat und etwas Wasser glutschte in die Schuhe, aber schon war sie drüben angelangt und klammerte sich an die Hecke.

Der Einschlupf bot sich dann wie von selbst an: Sobald man dort am Ufer hing, sah man, dass zwischen zwei niedrigen Ahornstämmchen eine Spur weiterführte. Kassandra schob sich seitwärts zwischen den Ranken durch und gelangte zur Mitte des Inselchens auf eine kleine, von Büschen dicht umschlossene Fläche, in deren Mitte ein kleines Feuerchen brannte. Der Mann, der davor hockte, schob kleine Stückchen trockenes Holz in die Glut, die nur kurz aufflammte. Er fuhr zusammen, als Kassandra hüstelte. "Na," fragte sie, "wieder am Feuer machen? Findest du das eine gute Idee?" Bisegger schaute sie verständnislos an. Kassandra schüttelte den Kopf: "Hast du noch immer nicht begriffen? Sie suchen dich! - Weisst du, wer der Tote ist?" Der andere schüttelte nur stumm den Kopf und starrte weiter in die Flammen, die allmählich kleiner wurden, dafür stieg mehr Rauch auf. Kassandra machte einen Schritt vor und zertrat die Glut, bis nichts mehr glimmte. "Lauffer!" sagte sie und endlich schien Klaus zu erwachen: "Der Notar?" fragte er mit echtem Erstaunen. "Der Notar", nickte Kassandra. "Kennst du den?" "Kennen", Bisegger hob die Schultern, "natürlich weiss ich, wer das ist, wer weiss das schon nicht, aber kennen - gehört auch zum Krüngel hier." "Die Alteingesessenen?" fragte Kassandra. "Ja", sagte Bisegger und sah auf wie ein geschlagener Hund. "Und deine Frau hat da dazugehört?" Bisegger zuckte wieder die Schultern: "Da und anderswo, die sitzen überall an den Hebeln, kommt keiner von draussen rein!" Dann starrte er wieder auf die Stelle, an der das Feuer gebrannt hatte und lieferte dann den Satz, der Kassandras Ideen, die sich langsam und undeutlich erst zu formen begannen, zu bestätigen schien: "Die werden es auf jeden Fall auf einen Auswärtigen schieben. So läuft es immer. Sabine hat mir Geschichten erzählt...." Kassandra schaute ihn an: "Geschichten?" "Na ja," sagte Bisegger, "schon in der Schule lief das so - Pausenplatzgeschichten halt!" Kassandra wurde allmählich ungeduldig: "Und um was ging es da?" fragte sie. Der andere hob wieder resigniert die Schultern, eine Geste, die Kassandra allmählich auf die Nerven ging. "Na, können Sie - kannst du dir doch denken! Kleine Diebstähle, Betrügereien, all sowas halt! Und immer fanden sie einen andern, auf den sie es schieben konnten. Und Sabine fand das auch noch geil!" Kassandra schüttelte den Kopf: "Und darum habt ihr euch gestritten?" Wieder hob Bisegger die Schultern: "Darum und wegen allem und jedem - ist doch jetzt egal!" Dann runzelte er plötzlich die Stirn und wirkte wacher als bisher: "Aber ein wenig seltsam ist es doch!" Kassandra wartete, aber der andere schien wieder in seinen Gedanken zu versinken. "Was ist seltsam?" fragte sie schliesslich ein wenig ungeduldig.

Das war ja mühsam, Bisegger schien nicht der schnellste Denker zu sein. Aber manchmal, dachte Kassandra, manchmal sind ja auch andere Dinge wichtig. Und wie um das zu bestätigen setzte der andere an einem unerwarteten Punkt an: "Nun, Betrügereien, Bereicherungen, Vorteilsnahme, das ist ja das eine, aber bisher gab es dabei nie Tote - oder höchstens wegen einem dummen Zufall wie bei Kinzig damals!" "Kinzig?" fragte Kassandra, die wieder einmal zu wenig über die örtlichen Verhältnisse wusste. "Na ja," sagte Bisegger, " war vor mehr als fünf Jahren, weiss ich auch nicht mehr so genau." Kassandra nickte: "Da war ich noch nicht hier." Der andere aber hörte nicht, spann seinen einmal aufgenommenen Faden beharrlich weiter, das gefiel ihr. "Das war die alte Fabrik unten im Tal, eine Textilfabrik, früher der grösste Arbeitgeber hier. Dann hat sie einer von hier übernommen, aber das Ganze war ein Flop, konnte nicht mal das Areal nutzen, weil die Gebäude offenbar stehen bleiben mussten, Zeugen der industriellen Vergangenheit oder sowas. Nun, und dann ist der grösste Teil davon, das Kernstück sozusagen, eines Nachts abgebrannt, bis auf die Grundmauern. Dabei kam der Hausmeister und Portier der Anlage ums Leben, der alte Kinzig eben, war seit langer Zeit hier, eigentlich schon im Pensionsalter, aber die Fabrik war sein Leben!" "Und die Schuldigen?" fragte Kassandra. Wieder zuckte Bisegger auf die nervige, ergebene Art die Schultern: "Es gab keine Schuldigen!" sagte er leise, "ein technischer Defekt war die offizielle Begründung. Obwohl..." Kassandra wartete, dann musste sie wieder nachfragen: "Obwohl?" "Nun ja", sagte Bisegger, "natürlich gab es auch andere Gerüchte. Kurz danach übernahm jedenfalls ein Konsortium das Gelände und jetzt scheint es recht gut zu rentieren. Darum gibt es Leute, die sagen, dass das Ganze eine abgekartete Sache gewesen sei und der Brand gelegt worden sei - aber niemand hat je Beweise gefunden." "Und das Konsortium besteht aus jenen Leuten, die du den Krüngel nennst?" Bisegger nickte: "Die sind hier dick drin im Immobiliengeschäft. Gegenwärtig zum Beispiel auch hier in unserm Dorf, da liegt einiges drin, so gut, wie die Lage ist für Pendler!" "Und es gab nie Tote," sagte Kassandra nachdenklich. Der andere nickte: "Aber diesmal..." "Der Notar gehörte wohl dazu?" fragte Kassandra. "Dazu?" "Na ja, zu dem, was du den Krüngel nennst." "Sicher, ein Notar ist natürlich dafür eine gute Sache," sagte der andere und man konnte erkennen, dass ihm die Zusammenhänge zu denken gaben.

Von irgendwo hörte man Hundegebell. Aber der Weg draussen war ja beliebt bei Hündelern. Kassandra achtete nicht weiter darauf. "Damals ein Feuer", sagte Kassandra halblaut, "diesmal sollte es wieder eins werden und man hatte auch schon den Schuldigen bereit!" "Den Schuldigen?" fragte Bisegger und Kassandra dachte, dass er wirklich unglaublich naiv sein müsste - oder spielte er was vor? "Natürlich!" sagte Kassandra, "eine Frau zieht aus, der Verlassene ist verzweifelt, vielleicht hat er eine Wut, vielleicht weiss man auch, dass er oft im Freien am Feuer sitzt, vielleicht hat er auch mal sowas gesagt, wer weiss, die Frau hats weitergegeben oder sie würde es dann als Zeugin bestätigen, man würde natürlich davon ausgehen, dass er..." "Sehen Sie - siehst du," sagte der andere, "ich habe keine Chance!" Das Hundegebell war nun näher zu hören, es war eine ganz bestimmte Art von Gebell und Kassandra runzelte die Stirn. "Hör mal", sagte sie, "ich glaub, die sind nicht mehr weit!" "Die?" Bisegger hob fragend die Brauen. "Na, sie suchen dich doch, schon vergessen? Sutter hat wohl die Hundestaffel geholt, wütend wie er ist und mir traut er sowieso nicht!" "Aber - aber - " der andere hob wieder hilflos die Schultern. "So wie die Sache steht, wird dir natürlich niemand glauben, wir haben ja soeben festgestellt, wie eingefädelt die Sache ist!" "Bloss: Der Tote konnte nicht vorgesehen sein," sagte Bisegger, "das muss eine Panne gewesen sein! Und Beweise gibt es ja nicht, nicht mal das Feuerzeug hab ich angerührt!" "Kein Problem für Sutter", sagte Kassandra, "der legt sich problemlos etwas zurecht! - Du musst weg!" sagte sie entschlossen, holte einen Schlüssel aus der Tasche und nannte ihre Adresse, "oberster Stock," fügte sie hinzu. Der andere starrte sie an. "Warum..." "Egal", sagte Kassandra hastig, " ich hasse solche abgekarteten Spiele - und Klüngeleien kann ich auf den Tod nicht ausstehen! Bloss weiss ich noch nicht, wie ich da weiterkommen soll. Hast Du gar keine Idee?" Der andere zögerte sichtlich. "Los, los, sag schon!" drängte Kassandra, denn das Gebell war nun bedenklich nahe.  "Na ja", stotterte Bisegger, "ich weiss ja nicht... ein ehemaliger Stadtpolizist... man hat ihn kaltgestellt... ging um irgendeine schmutzige Sache im Jugendheim der Stadt.. etwas mit Knaben und so.. ekelhaft. Ich hab ja nie geglaubt, dass er etwas damit... es wurde auch nie was bewiesen... bei der Sache Kinzig war er glaub auch involviert... er musste dann den Dienst quittieren!" "Los", sagte Kassandra, "die Adresse! Und dann nichts wie weg! Ich hoffe du schaffst es, ungesehen zu mir zu kommen?" Der andere straffte sich und zog endlich mal nicht nur die Schultern hoch. "Klar doch," sagte er, "wird bisschen kühl im Wasser aber es wird gehen!" Kassandra prägte sich die Adresse des ehemaligen Polizisten ein, sie wusste, wo das war. Dann glitt der andere so lautlos durch die Büsche, dass sie staunte, ein kaum hörbares Plätschern und dann war er weg. Einige Minuten später tobte am Ufer drüben, auf der andern Seite der Trittsteine, die Hundemeute. Kassandra schlüpfte durch den Spalt.

Die Szene, die sie da sah, liess sie vor Verblüffung beinahe ins Wasser plumpsen: Auf der Ufermauer hatte sich eine Katze zu imposanter Grösse aufgeplustert und fauchte die Hunde an, die sich wie rasend gebärdeten und kaum zu bändigen waren. Kassandra lachte laut heraus: "Katerchen! Wo kommst du denn her?" Sie turnte über die Trittsteine zur Mauer und nahm die Katze zu sich. „Du bist wie ich – immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort!“ Dann wandte sie sich den Polizisten zu und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach hinten: "Die Feuerstelle ist noch warm!" Der vorderste der Beamten preschte direkt durchs Wasser auf das Inselchen und brach durchs Dickicht. Gleich darauf patschte er wieder zurück und fuhr auf Kassandra los: "Wohl verrückt geworden?" bellte er, "Spuren vernichtet, wie?" "Im Gegenteil", sagte Kassandra und pflückte eine Brombeerranke von der Uniform: "Du hast da was!" Dann stieg sie mit Katerchen auf der Schulter über die Mauer und ging auf den Streifenwagen zu, der auf dem Feldweg draussen wartete.

4

"Also," Sutter liess seine Akten fein säuberlich gestapelt auf dem blanken Pult und das war durchaus ein Alarmzeichen, "der Kerl ist Ihnen zum zweiten Mal unter den Händen weggeschlüpft?" Das Du wurde demonstrativ weggelassen, auch das war nicht gut. Kassandra hielt den Blick aus, aber diesmal fiel es ihr nicht leicht und sie begann, über ihre Gefühle nachzudenken. Konnte es sein, dass da mehr war als nur der übliche Reiz bei der Aufdröselung einer verwickelten Sache? Konnte es sein, dass dieses "mehr" mit dem Mann zusammenhing, der sie um Feuer gebeten hatte? Sie fühlte ein kleines Kribbeln, wenn sie an ihn dachte, an die ungebärdige Mähne, an seine feingliedrigen Hände, die trotzdem geschickt waren im Umgang mit den Dingen der Natur, an seine stahlblauen - ja, gestand sie sich ein, es war wohl mehr da, aber gleichzeitig wusste sie auch um die Ehrlichkeit in diesen Augen. "... und Beweismittel vernichtet, vielleicht sogar Fluchthilfe geleistet!" Sutters Stimme klang gefährlich monoton. "Ich sollte Sie sogleich festnehmen, ja, ich mache mich sogar direkt mitschuldig, wenn ich es nicht tue!" Kassandra stand auf. Die Welt war plötzlich weit weg, das saubere Büro, die Krawatte des Polizeichefs. Sie drehte sich zur Türe, alles kam ihr vor wie in Zeitlupe, die zwei bulligen Typen in ihren schwarzen Monturen, die dort plötzlich standen, 'Polizei" schrieen die weissen Buchstaben auf ihren Panzerungen. "Halt", sagte die kalte Stimme vom Pult her, dann war sie schon beim Fenster, ein Schwung über die Brüstung, draussen ein paar Schritte auf den Metallplanken des Fassadenvorbaues. Ein Hoch auf die moderne Architektur dieser Stahl-Glas-Gebäude mit den vorgehängten Lamellenbauten. Eine einfache Kletterpartie an den Aussenstützen dieses Vorbaues genügte, und schon war sie mit einem kleinen Plumps auf dem sauberen Rasen gelandet. Der Polizeichef schrie oben am Fenster irgendwas Unverständliches. Kassandra formte die Hände zu einem Trichter: "Bis später", und mit einem Hakenlauf huschte sie in die Büsche drüben am Ufer des lächerlichen Flüsschens. Einige Flüche hallten ihr hinterher und danach klatschten mehrere Aktenbündel gegen die dünnen Birkenstämmchen. So gefiel ihr der Polizeipräsident besser als auf die kalte Art. Aber nun musste es schnell gehen.

"Hören Sie", sagte der Mann, der mit seinem runden, fast kahlen Schädel, der schäbigen grauen Strickweste über dem karogemusterten Hemd wie das Idealbild eines gealterten Bankbeamten aussah und so gar nicht wie ein ehemaliger Polizist. "Das ist so lange her und ich hab jetzt hier meine Ruhe - und man muss auch vergessen können!" "Aber einer hat nicht vergessen", sagte Kassandra und bemühte sich um einen gelassenen Ton, so als hätte sie alle Zeit der Welt, was natürlich überhaupt nicht stimmte, denn eigentlich ging es um Minuten, und für Augenblicke hatte sie sogar gedacht, dass ihr die andern zuvorgekommen seien, als auf ihr Klingeln keine Reaktion erfolgt war. Schliesslich hatte sich dann auf ihr Klopfen und wiederholtes Klingeln hin doch etwas geregt in der Wohnung und schliesslich war die Türe endlich einen Spalt breit geöffnet worden. Noch immer hatte Kassandra keine Ahnung, wie sie den Anfang des Fadens finden sollte, der ihr erlauben würde, den Krüngel, von dem Bisegger gesprochen hatte, aufzuwickeln.

Der ehemalige Polizist war die einzige kleine Unregelmässigkeit auf der glatten Oberfläche, die dieser Krüngel nach aussen zeigte. Aber wenn das Ganze nur das raffinierte Hirngespinst eines bedrängten Brandstifters war, der jetzt in ihrer Wohnung sass und sich ins Fäustchen lachte? Oder sogar mithilfe ihrer Ersparnisse schon lange verduftet war? Nicht zum ersten Mal in dieser Phase einer Geschichte überfielen Kassandra Zweifel. Und doch: Das Ganze passte haargenau zu der Gegend, zu der Gesellschaft hier, dieses Geflecht von Abhängigkeiten und kleindenkerischem Heuchlertum, zum Schweigen und dem Waschen der eigenen Hände in Unschuld. Gerade diese zu glatte Oberfläche, diese scheinbar klaren Verhältnisse und Zuweisungen waren typisch für das Vorgehen solcher Leute. Und ausserdem, dachte Kassandra, ausserdem waren ihre Zweifel das beste Indiz, dass ein Fall kurz vor seiner Auflösung stand. "Meinen Sie, man würde auch mich - " Die lange Stille hatte den Tonfall verändert, es schwangen jetzt Bedenken mit und der sture Schweigebeschluss, in den sich der Mann seit zwei Stunden verbiss, schien ein wenig fadenscheinig zu werden.

Nur schon, bis man über die Türschwelle gekommen war! 'Nicht aufgeräumt' hatte aus dem Munde dieses gesetzten Herrn fast absurd geklungen. Geziert und künstlich, dass er keine Frau ins Haus lassen wolle, was denn die Nachbarn denken würden. Kassandra war hartnäckig geblieben, die Hartnäckigkeit der Verzweiflung. Es war die letzte Chance, der einzige winzige Hoffnungsschimmer.

Nun sass man also in dem biederen Wohnzimmer, das keine Spur von Leben zeigte, kein Stäubchen, ein einziges Foto gerahmt auf einem Buffet aus dem Warenhaus, billige Ware. Ein Frauenkopf mit eigenwillig harmonischen Zügen, Schönheit für die einen, Farblosigkeit für die andern. Ein schwarzes Band war schräg über die linke obere Ecke drapiert. Glanzmann, so hiess der ehemalige Polizist, folgte ihrem Blick und im selben Moment wurden seine ausweichenden, unsteten Augen stabil, er schaute Kassandra ins Gesicht und gab auf. "Ja," sagte der Mann, der nun plötzlich ein Mann war und nicht mehr ein farbloser ehemaliger Beamter, "ja, ein wenig war es auch ihr Ende!" Kassandra schwieg. Man war am Ziel, nun musste sich zeigen, ob das Ziel auch die Erwartungen erfüllte. "Kommen Sie" fuhr der andere plötzlich fort und verliess das Wohnzimmer, in dem die ungenutzten Dutzendmöbel vor sich hin dösten oder auch schon gestorben waren, ging ein paar Schritte durch einen Korridor, in dem das Licht zögerte, Helligkeit zu verbreiten und und öffnete eine Türe in der Korridorwand, die ebenso wie die ganze Wand in abgeschossener, schwachgrüner Lackfarbe gestrichen war, so dass man sie kaum beachtete. Durch diese verborgene Türe betrat man die wirkliche Welt: Ein Poster von Che bildete sozusagen das Auge des Sturms. Hier eine Elektrogitarre, dort ein Stapel Langspielplatten, ein historisches Spulentonband, auf einer Insel geschützt ein Plattenspieler höchster Qualität, Bücherstapel, Beatles-Poster, Kleinplakate mit vier wilden Typen, in zumeist heruntergekommenen Gegenden, verlassenen Bahnhöfen, stillgelegten Fabriken, Kieswerkhallen, 'wild train' war in Metallica-Lettern zu sehen. Kassandra verharrte einen Augenblick, dann entspannte sie sich. Das würde interessant werden!

5

„Es ist wie überall in diesen ländlichen Gegenden, in diesen Hinterhöfen der Städte“, sagte Glanzmann, „man kennt sich, man ist zusammen in die Schule gegangen, man hat zusammen im Keller des Schulhauses ein Schlagzeug gemartert, Gitarren gequält und davon geträumt, in grossen Stadien kreischende Mädchen zu verführen!“

Sein Blick blieb einen Augenblick an den Kleinplakaten hängen. „Wild train“, murmelte er, „ha! Dann kamen die Verlockungen, die Karrieren, einer nach dem andern legte die Gitarre weg, hatte eine Ausrede, um nicht an die Probe zu kommen. Das Töchterchen des Pfarrers, die Frau des Gerichtspräsidenten, die Blonde im Gasthof Bären – und plötzlich sitzt man allein im Zug nach nirgendwo, der Proberaum verödet und irgendwann bietet einem einer der Schulfreunde, die jetzt wichtige Leute sind, einen Posten an, man lässt sich breitschlagen, auch wenn Marietta dagegen ist. Denn Marietta war keine von hier, ihre Familie ist aus dem Süden und vielleicht hat sie darum eine Nase dafür, was unanständig riecht!“ Auch hier gab es Fotos von der Frau, aber nicht die braven aus dem Wohnzimmer: Schwarze Mähne, glühender Blick, posierend auf einer schweren Maschine, ein knappes Shirt, wild train auch hier.

„Sie fand sich nie wirklich zurecht“, fuhr der ehemalige Polizist mit belegter Stimme fort, „sie blieb halt immer die Fremde und hier, wissen Sie, hier kann man das schon spüren! Immer wieder hat sie mich angefleht: 'Komm, wir hauen ab, Fred', hat sie gesagt, 'komm, wir haben doch immer davon gesprochen, auf und davon, die Strassen entlang dahin, wo die Sonne scheint.' Immer wieder nahm ich einen Anlauf, beschloss ich, reinen Tisch zu machen. Aber die andern sassen am längeren Hebel, ich war schon zu tief drin, hatte schon zu oft nachgegeben, schon zu oft die Augen zugedrückt, beide Augen und mehr und sie liessen es mich spüren, sie machten Andeutungen und eins ums andere Mal musste ich zu Kreuze kriechen!“

„Sie mussten?“ fragte Kassandra und zog eine Augenbraue hoch. „Nun“, sagte der andere, „es begann eigentlich harmlos, so wie damals auf dem Pausenplatz. Zuerst hab ich nur ab und zu ein Auge zugedrückt, wenn einer mal wieder etwas zuviel in der Lampe hatte, wenn er seine Karre irgendwo abstellte. Dann wurden die Dinge grösser und auch komplizierter, ich sollte da wegschauen und jene Anzeige unter den Tisch wischen, man brauchte dort eine glaubwürdige Aussage und hier einen Beamten, der die richtigen Fragen stellte – oder vielmehr eben die Falschen!“ Er schwieg und starrte auf die Plakate. „Wild train“, murmelte er wieder, „ja, damit kamen sie mir auch, wir haben ja damals auch nicht nur Wasser getrunken und nicht nur Pfeifentabak geraucht. Und ich, ich fand einfach den Mut nicht, obwohl Marietta noch so gerne mitgekommen wäre.“ Wieder schwieg der andere. Man schien allmählich zum Kern vorzustossen und davor hatte er offenbar immer noch Angst. „Ja,“ sagte er, "und dann kam die Sache mit dem Jugendheim, mit den Knaben dort, die man – die man –„ er stockte wieder und Kassandra spürte eine Übelkeit aufsteigen: Es war überall dasselbe, sobald man eine Ecke des gepflegten Perserteppichs hochhob...

„Nun“, sagte Glanzmann plötzlich entschlossen, „es hilft nichts und vielleicht ist es ja nun endlich die Zeit! Damals hab ich eine ganz miese Rolle gespielt und man hat mich auch noch dafür belohnt. Aber ich hab einen hohen Preis bezahlt, oder vielmehr – „ er schaute auf die Fotos und Kassandra hätte geschworen, dass seine Augen nass wurden, „vielmehr sie hat den höchsten Preis bezahlt! Und Weidmann- „ flüsterte er und schaute wieder auf das Plakat mit der Band. „Weidmann?“ fragte Kassandra höchst gespannt. „Na ja, ein Kollege von mir. Er war der Meinung, dass es jetzt genug sei und dass es jetzt vorbei sei, bei solchen Sachen, hat er gesagt, bei solchen Sachen könne er einfach nicht wegsehen! Ging damit an die Presse und für einen Augenblick schien es, als würde er es wirklich schaffen, zumal auch der Notar scheinbar auf unserer Seite war!“ „Der Notar?“ fragte Kassandra, „welcher Notar denn?“ „Na“, sagte Glanzmann, „Lauffer doch, den man gestern gefunden hat. Es hilft nun alles nichts mehr, ich glaub, wir müssen es hinter uns bringen, endlich hinter uns bringen auch wenn es dich“, er schaute auf das Foto der jungen Frau, „nicht mehr lebendig macht!“ „Was ist geschehen?“ fragte Kassandra leise. „Nun, der Notar ist als erster eingeknickt, weiss der Teufel, wie sie das geschafft haben, aber sie haben ja lange geübt, schon damals, auf dem Pausenplatz– na, Sie werden wissen, wie das so läuft! Und sie hatten ja genug gegen ihn in der Hand! Jedenfalls kam daraufhin Weidmann in Teufels Küche, hat sich gut geschlagen, aber dann wurde er krank, es wurde immer schlimmer und drei Monate später war er unter der Erde. Und damit war der einzige, der den Mut gehabt hatte, plötzlich weg und die Sache verlief sich. Mich hat man dann befördert, weil ich den Mund gehalten hatte, aber Marietta hat mir das nie verziehen. Sie hat nicht mehr mit mir gesprochen und ein paar Monate später – „ er stockte wieder, stockte und ein nervöses Zucken machte sein Gesicht zur schrecklichen Fratze. Er versuchte sich zu beherrschen. „Schleuderunfall, sagten sie“ keuchte er, „aber ich bin sicher, dass sie mit Absicht gegen den Baum – oder vielleicht hat man auch da... „ er starrte Kassandra voller Grauen an. Sie nickte sachte: „Würde eigentlich passen – nun, wir werden auch dem nachgehen! Wie ging es weiter?“ Der andere starrte mit einem neuen Ausdruck auf die Plakate: „ Nun, ich machte weiter wie im Traum, bis dann die Sache mit Kinzig geschah.“ „Der Brand in der Fabrik?“ fragte Kassandra. Glanzmann nickte und schaute sie erstaunt an: „Wer hat Ihnen davon erzählt?“ Kassandra machte eine Handbewegung: „Unwichtig – was war mit dieser Sache?“ „Nun“, sagte Glanzmann, „ich wusste natürlich, dass die Fabrik abbrennen sollte, man hatte mir ja gesagt, was zu tun sei.“ Er schwieg und starrte blicklos auf die Fotos, als sähe er jene Szenen wieder vor sich.

„Sie haben nicht mehr mitgemacht?“ Der andere nickte: „Und dann ging es sehr schnell, sie hatten wirklich alles gut eingefädelt. Zuerst wurde ich auch krank", er schaute plötzlich auf und ihm schien ein weiterer ungeheuerlicher Gedanke zu kommen, "ja," wiederholte er mit seltsam tonloser Stimme, "ich wurde auch krank, dasselbe wie Weidmann." Er hielt inne, als müsste er diese neue Entdeckung zuerst noch einordnen. "Aber dann - ich hatte Glück, dass ich alt genug war, und als sie mir nahelegten - ich bin dann in den vorzeitigen Ruhestand getreten – mit Einbussen natürlich, mit beträchtlichen Einbussen. Aber da ich ja allein bin – „ Er schaute wieder auf die Fotos. „Und die Krankheit?“, fragte Kassandra. Der andere schaute sie an, als sähe er ein Gespenst. „War weg,“ flüsterte er, "kaum hatte ich unterschrieben, verschwanden die Schmerzen!" Und Kassandra nickte: „Ihr Kollege damals, der war vermutlich noch zu jung!“ „Ja“, nickte Glanzmann, „er war beträchtlich jünger als ich. Aber ich kann noch immer nicht glauben – Sie denken, die haben – „ die Worte gingen im aus und Kassandra machte wieder eine wischende Bewegung: „Das können wir später klären, jetzt geht’s um ein weiteres Leben, das, soweit ich das Ganze überblicke, herhalten muss.“ Da war es, als erwache der ehemalige Polizist im andern: „Als ich davon gelesen habe, dachte ich mir das auch. Es ist ihre Masche, wissen Sie, sobald sich die Gelegenheit bietet, reissen sie sich alles unter den Nagel, was sie wollen. Und Wendiger ist ja Architekt, beherrscht die Stadt nicht nur politisch sondern auch die ganze Immobilienszene. Da kam ihm sicher gelegen, dass der Bisegger ein Auswärtiger war und seine Frau eine aus der ehemaligen Schule. Die hab ich auch noch gekannt, damals, niemand hätte gedacht, dass sie einen von aussen – sie war ja damals mit Brocken zusammen, dem späteren Anwalt!“ „Gehört offenbar alles dazu, was Rang und Namen hat“, seufzte Kassandra, „das wird nicht einfach!“ Der andere schaute sie lange an, dann ging er zu einem Regal, rückte ein paar Kisten mit Langspielplatten weg und zog eine dicke Mappe dahinter hervor. „Oh doch“, sagte er, „wenn Sie das hier weitergeben, wird es sehr einfach!“ Kassandras Augen weiteten sich: „Sie haben – „ „Natürlich!“, sagte der andere, „so ganz ohne Sicherheiten liess ich mich dann doch nicht wegschieben!“ „Aber“, sagte Kassandra, „ aber – die wissen das doch! Hatten Sie nie Angst?“ Der andere lächelte: „Nun, nach dem Brand der Fabrik kam eben Lauffer zu mir!“ „Der Notar?“ fragte Kassandra und spannte sich. „Genau, der Notar!“ Glanzmanns Gesicht wurde ernst: „Kinzig, der Portier, der damals ums Leben kam, jedenfalls vermutlich ums Leben kam, genau hat man das ja nie nachweisen können, nur ich kann das," er klopfte auf die Mappe, " mit dem hier kann ich es. Hab ich aber nicht mal dem Lauffer erzählt. Kinzig war offenbar sowas wie ein Vater für ihn gewesen, jedenfalls eine Vertrauensperson, von der er viel erhalten hat in seinen jungen Jahren, sagte er. Und dass er nun auspacken würde und dass ich ihm dabei helfen solle.“ Glanzmann starrte Kassandra an: „Ich ihm helfen, verstehen Sie? Nachdem er letztes Mal meinen Kollegen – gut, ich machte gute Miene und gab ihm bisschen was, ein paar Unterlagen, mit denen er zufrieden sein konnte, ohne ihm zu zeigen, was ich alles sonst noch hatte. Aber dass ich ihm öffentlich helfen würde, das habe ich rundheraus abgelehnt, davon habe er nichts, denn mich habe man ja gründlich kaltgestellt. Als er schon unter der Türe war, sagte er dann noch etwas, das mich stutzig machte. ‚Passen Sie auf sich auf’, sagte er und schaute mich lange an. Ich habe daraufhin noch am gleichen Tag alle meine Unterlagen kopiert und zu einem Rechtsanwalt gebracht, zu einem Zugezogenen, zu einem, der mit Sicherheit nicht dazugehört. Für den Fall, habe ich ihm gesagt, für den Fall, dass mir etwas zustossen sollte! Ich hab also vorgesorgt, mir schien, Lauffer wisse mehr, als er mir sagte und er sei darauf aus, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen in dem Spiel!“ „Aber nun“, sagte Kassandra, „nun scheint es, dass es ihm ernst war mit dem Schlussstrich!“ „Ich denke“, sagte der andere, "ich denke, dass es das Feuer war, dass ihn dazu brachte. Dieses Vorgehen war im zuwider seit dem Fall Kinzig!“ „Umso mehr scheint mir angebracht, dass wir nun schnell handeln“, sagte Kassandra, „andere werden wohl auch begriffen haben!“ Sie zog ihr Telefon hervor und wählte eine Nummer. „Schwarz“, flötete sie in das Gerät, dann hielt sie es ein Stück vom Ohr entfernt, das Gebrüll hallte durch den ganzen Raum, „aber ja, natürlich sag ich dir, wo ich bin und es wäre sehr dienlich, wenn sich deine Leute ein bisschen beeilen würden!“ Dann nannte sie die Adresse und drückte die Austaste. „Er ist natürlich wütend“, lächelte sie, „aber das hilft uns diesmal, dann sind sie schneller!“ Beide horchten auf, als es an der Aussentüre polterte, ein Schatten huschte gleich darauf draussen vor dem Fenster durch und man hörte, wie an der Hintertüre gehebelt wurde. „Und mir scheint, es ist höchste Zeit, hoffentlich sind sie wirklich schnell!“ Gleich darauf hörte man mehrere Sirenen herankommen. Typisch, dachte Kassandra, ohne grossen Auftritt geht hier nie etwas! Dann brach vor dem Haus und gleich darauf im Flur des Hauses ein Gebrüll los. Als es ein wenig verebbte, ging Kassandra zur Türe und trat auf den Flur. „Hier“, rief sie, „hier sind wir!“

6

Sutter stand am Fenster, als Kassandra eintrat, vielmehr, als sie von zwei schwarzen Gestalten ins Büro geschoben wurde. „Ein Frechheit! Ich will nichts, aber auch gar nichts hören! Wir werden ja sehen, wie Sie vor Gericht – „ Kassandra hob die Hand: „Zuerst zuhören, dann urteilen – das war doch mal dein Wahlspruch?“ Dann warf sie das Bündel Papiere auf den Tisch, so dass es die saubere Verteidigungsordnung der Aktenstapel dort empfindlich störte – und genau so zerstörte sie mit den wenigen Worten, die sie hinterherschob, die saubere Ordnung, die sich auch der Herr Polizeipräsident von der ganzen Gesellschaft hier aufgebaut hatte. Er wehrte sich zuerst noch, versuchte die hingeworfene Unordnung irgendwie hineinzupassen, in seine Aktenstapel und in sein Gesellschaftsbild. Aber es gelang ihm nicht und schliesslich liess er die Arme sinken und starrte Kassandra an: „Wenn auch nur ein Teil von dem, was Sie – was Du hier erzählst, wirklich wahr ist, dann – „ Kassandra wies auf die Papiere: „Ist alles hier belegt, schaus Dir in Ruhe an, geht allerdings weit zurück, fast bis auf den Pausenplatz. Und was Weidmann, den ehemaligen Polizisten betrifft, sollte man vielleicht auch eine Exhumierung beantragen, gewisse Gifte lassen sich auch Jahre nach dem Tod noch nachweisen. Und wer weiss, was der Notar noch bei sich trug, er muss ja auch etwas in der Hand gehabt haben. Vielleicht hat er auch noch Unterlagen zum Unfall einer gewissen Marietta Glanzmann dabei gehabt“, fügte sie leiser hinzu. Und da kam nun diese Art zum Vorschein, wegen der Kassandra den Alten trotz allem schätzte: Er trat sozusagen mit einem entschlossenen Tritt die Kulissen ein und ging sogleich in die Offensive. Das Ermittlerteam wurde instruiert und als am Abend die Presse, diesmal nicht nur die regionale, das Medienzimmer stürmte, hatte er bereits die wesentlichen Fakten beisammen und auch für Kassandra noch eine Überraschung bereit.

„Es geht auch“, sagte er zum Ende der Präsentation, „es geht auch noch um alte Missbrauchsgeschichten aus Pausenplatzzeiten. Die Frau des irrtümlich als Brandstifter Verdächtigten wurde nicht nur von ihrem Vater missbraucht, sie war auch ein willkommenes Opfer für die ganze Gruppe! Wir haben bei der Durchsuchung der Kanzlei Lauffer ein umfangreiches Dossier zu allen Ereignissen seit der Schulzeit gefunden, dass noch nicht ausgewertet ist – und nachträglich wurde auch noch die Mappe gefunden, die der Notar dabei gehabt haben musste, als er das Anzünden des Hauses verhindern wollte. Auch die damalige Affäre Kinzig, die letztlich jetzt zum Ausstieg des Notars geführt hat, wird nochmals aufgerollt werden müssen, sowie weitere scheinbar geklärte Unfälle und Krankheitsfälle. Es scheint, dass seit langem systematisch gewisse Informationen unterschlagen wurden! Wir werden alles minutiös rekonstruieren, das wird wohl noch einige Zeit dauern und es wird sicher noch die eine oder andere Überraschung absetzen.“ Damit schloss Sutter den Anlass und verwies allfällige Frager auf später. Die Bombe war so schon gross genug: Ein angesehener Rechtsanwalt, der erfolgreichste Architekt und Immobilienmagnat und einer der wichtigsten Politiker der Region, der als aussichtsreicher Kandidat fürs nationale Parlament galt – und es waren sicher, wie Sutter angetönt hatte, noch nicht alle Fäden aufgedröselt.

Nicht öffentlich, aber immerhin für alle im Revier zu hören, gab er dann noch seiner Anerkennung für Kassandra auf seine Art Ausdruck. Wo denn ihr Verdacht geweckt worden sei, fragte er sie, es könnten doch nicht nur die schönen Augen des vermuteten Brandstifters gewesen sein! Kassandra konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Zuerst“, gab sie zu, „zuerst war es wirklich nicht viel mehr, aber dann fielen mir alle die Unstimmigkeiten auf und dass der Anrufer gesagt hatte, er habe das Haus bereits angezündet, und da fragte ich mich natürlich, warum er das hätte sagen sollen, nachdem er doch noch nicht mal sein Feuerzeug dabei gehabt hatte!“ „Da seht ihr mal“, sagte Sutter in die Runde seiner Leute, „ dass man nie aufhören sollte, sich Fragen zu stellen. Der Anruf übrigens“, er wandte sich wieder an Kassandra, der Anruf wurde von dem Typen getätigt, der von den Herren jeweils mit dem Abfackeln beauftragt wurde. Gleich nach dem Anruf hat ihn Lauffer offenbar angegriffen und ihm das Feuerzug entrissen, darum kam es zum Kampf und Lauffer hat verloren, wie wir ja wissen. Zum Anzünden kam der andere dann trotzdem nicht mehr, weil du dazwischen kamst.“ Kassandra nickte: „Wenn man nicht alles selber macht...“ Sutter blickte sie durchdringend an, wie sie das meine, fragte er. Sie lächelte: „Eben – am Ende sind sie alle Pausenplätzler geblieben, die sich die Hände nicht schmutzige machen wollten. Irgendwann, auch wenn es sehr lange gut geht, geht’s dann eben doch nicht mehr gut, wenn man alles andere machen lässt.“ Der Polizeipräsident blickte sie misstrauisch an und grunzte.

Epilog

Die letzte Überraschung aber liess dann doch noch etwas auf sich warten. Es wurde bereits Spätsommer, Kassandra sass mit Klaus an einem der üblichen Sommerfeste, wo eine regionale Rockband spielte. „Nicht übel, die Jungs“, meinte Klaus, als die Musiker eine Pause einlegten. Kassandra nickte und schaute gedankenverloren zu, wie der Lead-Gitarrist sein Instrument beiseite stellte und zielstrebig von der Bühne herankam. Sie dachte, dass er zur Bar, die weiter hinten beim Ausgang aufgebaut war, unterwegs sei, aber dann merkte sie, dass er auf ihren Tisch zukam. Direkt vor ihnen blieb er stehen: „Na“, sagte er, „auch neu begonnen?“ Dann grinste er und nahm seine dunkle Brille ab. Kassandra war sich einiges gewohnt, aber diesmal musste sie einige Male leer schlucken, bis sie die Fassung wieder gewann: „Glanzmann!“ Der Gitarrist grinste sie aus dem grauen Haargewühl an: „Genau! Sie haben ja gesehen: Die Gitarre war noch da, die Mähne wuchs schnell und es ist einiges nachzuholen!“ "Die Band – " Kassandras Augen irrten zur Bühne hin. Ernst geworden nickte der andere: „Wild train, genau! Trotz allem bleiben wir dabei! Und warten Sie nur, bis der nächste Song kommt!“ Und den kündigte er dann selbst an und sein Blick war dabei deutlich auf Kassandra und Klaus gerichtet. „Das nächste“, sagte er, „das nächste ist ein Song mit Vergangenheit! Oder ein Song über die Vergangenheit, wie mans nimmt: Devils wear nice clothes!“ Während die ersten Gitarrenriffs schrillten, nickte Kassandra Klaus zu: „Sie tragen nicht nur elegante Kleider, sie schwingen auch salbige Reden!“ Und diesmal stand der Gitarrist den ganzen Song lang still und Kassandra hätte schwören können, dass er immer nur an ein Mädchen mit wilden schwarzen Haaren dachte.

Biel/Bienne, Februar 2020

 

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