Der Schläfrige

Ein Fall für Kassandra Schwarz (5)

1

Manche Träume haften einem an und kleben hartnäckig wie Kaugummi an den Schuhen. Sie ziehen Fäden, die einen umspinnen und die sich fast nicht mehr entwirren lassen. Dabei sind es nicht einmal zusammenhängende Geschichten, die bleiben, sondern einzelne Bilder, Wortfetzen und Stimmungen, die immer wieder am Gedankenhorizont auftauchen und wie Drohungen im Hintergrund lauern.

Die aufdringlichsten Wortfetzen eines solchen Traumes, die Kassandra Schwarz' Denken an jenem Spätsommertag dominierten, betrafen einen Mann, von dem kein konkretes Bild hängen geblieben war. Es wiederholten sich nur immer einige beschreibende Worte: stumpenrauchender, mordender Greis. Und dazu ein Name, den sie vollends nirgends einordnen konnte: Snoozy Egli. Seltsamerweise war sie sich der Schreibweise absolut sicher. Daneben blitzten einzelne Szenen auf; eine Imbissbude und eine Kassiererin, die Ewigkeiten lang das Geld in der Kasse klimpern liess und immer wieder mit schattenhaften Gestalten im Gedränge rund um Kassandra redete, ein lärmender Umzug von surrealen Figuren durch die Menge, etwa ein Zirkus auf einer Werberunde. Und immer wieder die Worte vom stumpenrauchenden, mordenden Greis und jemand Unsichtbarer, der ihr zuraunte, dass da ein Röntgenarzt eine Rolle spiele.

Phu, Kassandra schüttelte sich und versuchte, wieder in der Realität des angenehm milden, von einer weichen Sonne durchfluteten Tages Fuss zu fassen. "Was für ein Mist", sagte sie zu Luzia, als sie schon am frühen Nachmittag auf der Terrasse des Türken beim Bahnhof sassen. Luzia zuckte die Schultern: "Kommt immer mal wieder vor, dass man einen totalen Stuss zusammenphantasiert. Wer weiss schon, was der Auslöser dieser Träume ist." "Trotzdem", Kassandra war drauf und dran, ein zweites Bier zu bestellen, "irgendwie scheint mir, dass da irgendwo Unheil droht.." Nun solle sie aber einen Punkt machen, fand Luzia, die schon immer die Rationalere der beiden gewesen war, wenn ihr nach jedem schlechten Traum gleich etwas Schlimmes zugestossen wäre, dann hätte sie nicht eine so jungfräuliche Unfallchronik und es wäre ihr Schlimmeres zugestossen als kürzlich der Schnitt in den Finger beim Knoblauchrüsten. Kassandra versuchte sich genüsslich im Stuhl zu rekeln und die schmeichelnde Sommerwärme in sich eindringen zu lassen. Aber mitten in der Bewegung gerieten ihr schon wieder die Worte in die Quere. Ein stumpenraucher mordender Greis. Und was zum Teufel hatte der Zirkus zu bedeuten und was für eine Rolle spielte ein Röntgenarzt?

"Komm", sagte Luzia, "schauen wir uns an, was du von mir willst." Erst da tauchte Kassandra endlich auf. Natürlich, Luzia war ja eigentlich gekommen, weil die Schlussfassung einer Expertise anstand und Kassandra die Unterstützung einer professionellen Lektorin angebracht schien. Darum kam auch ein zweites Bier nicht in Frage und sie winkte dem türkischen Wirt einen Abschied zu.

 

2

Die Sache mit dem Bericht zog sich dann doch in die Länge und es ging bereits gegen zwanzig Uhr, als Kassandra mit Luzia zusammen das ehemalige Brauhaus betrat. "Jetzt brauch ich was Deftiges!" hatte Luzia erklärt, als sie nach Stunden endlich die Köpfe von den Manuskripten hoben und Kassandra machte sofort den Vorschlag, dass man ins Brauhaus gehen könnte. Das Essen dort sei wunderbar raffiniert, obwohl es eigentlich ganz alltägliche Gerichte seien und auch der Rote sei durchaus annehmbar, wenn es auch ein Brauhaus sei. Luzia wurde nicht enttäuscht: Die Schweinshaxe war etwas vom Besten, das sie in der letzten Zeit gehabt habe und hausgemachter Kartoffelstock sei durchaus selten geworden. „Etwas“, meinte Kassandra, „etwas muss man ja von der Provinz haben, und wenn es nur ab und zu ein selten gewordener Essensgenuss ist!“

Die Tische rundherum waren dicht besetzt, Alt und Jung durcheinander, gesetztere Herren in Krawatte neben bulligen Typen in schwarzen Shirts. Es herrschte beinahe echter Bierhausrummel, entspannte Feierabendfröhlichkeit. Der Traum war endlich weit weg entschwunden – und genau in diesem Augenblick liess Kassandra unvermittelt ihre Gabel in der Hackbratenscheibe verharren. Der Name war mitten in Lachen, Wortfetzen, Essgeräuschen aufgeglüht wie eine der knallenden Leuchtpetarden in Feuerwerken, für Augenblicke hatte es sogar geschienen, als seien all die Geräusche ausgeblendet. "Egli", hatte die Stimme am Nebentisch deutlich gesagt. Niemand kümmerte sich darum, aber plötzlich war der Traum wieder da und Kassandras Sinne vibrierten hellwach. Luzia wunderte sich, warum sie plötzlich ins Leere sprach. Kassandra linste zum Tisch hin: Einer mit einem schiefen Gesicht, die eine Hälfte war hochgezogen wie wenn sie weit über dem Scheitel an einem unsichtbaren Nagel angehängt wäre, sprach gerade. Der Mund grinste schief und das Grinsen war hässlich. "Gestern", sagte der Mund und vorerst schwiegen die rundherum, zwei in den blauen Werkhosen einer grossen Schreinerei, einer in einer geschniegelten Kleidung mit Krawatte und einer im ausgebleichten T-Shirt mit dem Aufdruck einer internationalen Band und dem verlebten Gesicht eines Genussmenschen. Dann kam der zweite Begriff des Traumes: Snuuusi, sagte der im T-Shirt und eifrig pflichteten ihm die andern bei: ‚Genau, so hat man ihm gesagt.’

"Was zum Teufel..." begann Luzia, aber Kassandra brachte sie mit einem tödlichen Blick zum Schweigen. Es kamen immer weitere Gäste an und der Lärm kochte heftiger auf als je zuvor, die Beiz war total überfüllt, selbst an der Theke klebten sie in Trauben um die zwei kümmerlichen Barhocker. Man konnte kein genaueres Wort verstehen. Aber nicht nur darum versiegte das Gespräch nebendran. Es war Kassandra, als hätte sie ein Augenzeichen des Schiefgesichtes wahrgenommen, genau im Moment, als der im T-Shirt zum Sprechen angesetzt hatte. „Der Chef meint, man müsse diesen Egli - „, Kassandra hätte schwören mögen, dass er so begann. Aber mitten im Satz brach er ab und für Augenblicke wusste keiner weiter. Dann hob Schiefgesicht das Glas, man prostete sich zu und der Moment war weg.

"Tschuldigung", sagte Kassandra, "ich bin wohl ziemlich grässlich gewesen gerade. Dieser idiotische Traum aber auch!" Luzia war, wie Kassandra jeweils immer und bei jeder Gelegenheit betonte, die geübteste Zuhörerin, die man sich denken konnte. Auch jetzt liess sie ruhig die Zeit verstreichen, während Kassandra ihre Gedanken ordnete. Vielleicht täusche sie sich, meinte sie, aber ob es Luzia nicht auch scheine, dass die Unterhaltung am Nebentisch jetzt plötzlich etwas Gezwungenes habe. Luzia stimmte ihr bei, aber gerade in diesem Moment brach ein höllisches Gelächter aus und in der Folge nahmen die Wortwechsel an Fahrt auf. Aber die Botschaften waren derart verschlüsselt, dass die beiden Frauen nichts daraus schliessen konnten. Nichts, ausser dass sich die Kerle gezielt und boshaft über sie lustig machten. Offenbar hatte man bemerkt, dass die zwei Frauen zugehört hatten.

Das Beste sei, fand Kassandra daraufhin, dass man noch eine Flasche bestelle. Und auch danach war noch immer zu viel von dem Traum übrig, so dass man noch eine weitere bestellen musste. Allerdings wurde damit wohl das Gegenteil der erwünschten Wirkung erzielt, denn auch in Luzias weinschweren Träumen dieser Nacht geisterte nun ein stumpenrauchender mordender Greis mit einem schiefen Gesicht, dessen eine Hälfte wie mit einem Faden an einen Nagel über dem Scheitel gebunden schien.

 

3

Wie es so üblich ist bei solchen Träumen, verblasste zwar das ganze Bild bei Tageslicht, aber einzelne Namen und Szenen tauchten immer wieder plötzlich in Kassandras Denken auf, zudem nun vermischt mit den Ereignissen der weinseligen Nacht und auch bei ihr hatte Snoozy Egli nun die verzerrten Züge des Stammgastes erhalten.

Zudem konnte sie es nicht lassen, nach dem seltsamen Spitznamen zu suchen, den sie auch sehr schnell in einem englischen Wörterbuch fand: „Schläfrig“, war demnach die sinngemässe Bedeutung, was ihre Unruhe aber höchstens noch steigerte. Denn dass ausgerechnet ein Zusammenhang mit Schlaf bestand, gab ihr noch mehr zu denken. Darum war sich nicht einmal sonderlich überrascht, als am nächsten Tag, einem Freitagmorgen, der Polizeichef persönlich anrief. In seiner kauzigen Art wollte er wissen, ob sie noch immer von diesem Alten träume, von diesem Röntgenarzt, nach dem sie ihn kürzlich gefragt habe und ob es sie vielleicht interessiere, dass er soeben vom Tod eines Herrn Egli erfahren habe. Kassandra erinnerte sich, dass sie etwas befremdet gewesen war, als der Polizeichef sie ziemlich brüsk abgefertigt hatte, kaum dass sie einige Details erwähnte. Und er war auch jetzt eher kauzig. Ob sie unter Ahnungen leide oder weshalb sie ausgerechnet diesen Namen geträumt habe. Und noch mehr zu denken gab ihr die seltsame Art, wie sich Scherrer ausdrückte. Es sei zwar, sagte er nämlich als nächstes, ein gewaltsamer Tod, aber man habe beschlossen, dass er selbst herbeigeführt worden sei. Er, Scherrer, werde es darum vermeiden, sich näher damit zu befassen. Aber vielleicht habe ja sie Lust dazu? Sie könne sich ja den Schauplatz mal anschauen gehen. Und ohne sich etwas weiteres entlocken zu lassen brach er das Gespräch mit ein paar Ausflüchten ab.

„Irgendwas“, sagte Kassandra zu Luzia, als sie in dem roten Gemeinschaftsauto den Hügeln des Hinterlandes entgegen fuhren, irgendwas sei da gründlich schief. Nicht nur, dass sich der Polizeichef in ganz unüblichen Worten äussere, sondern auch überhaupt, dass er sie regelrecht auf die Sache ansetze, denn sonst war er sehr darum bemüht, sie vom Geschehen möglichst weit fernzuhalten. Und zudem, fand sie, sei es doch seltsam, dass sie, Luzia, erstmals nach Wochen genau jetzt wieder mal bei Kassandra erschienen sei, so, als habe sie etwas geahnt. "Blödsinn", sagte Luzia, die mit Ahnungen nichts anfangen konnte, und Kassandra solle jetzt nicht wieder mit dem ‚Gspürsch-mi-Unsinn’ beginnen, es sei ja um die Bereinigung der Texte gegangen. Und sie sei froh, habe Kassandra sie gleich angerufen. Denn sie sei nicht mehr die einzige, durch deren Gedanken ein mordender Greis und ein Schiefgesicht geistere - aber ob man dort hinten, sie deutete vage nach vorn, wohl auch irgendwo ein anständiges Bier kriegen könne? Ein ziemlicher Krachen sei es, sagte Kassandra. Mit dem Dialektwort bezeichnete man weitabgelegene und versteckte, und, fügte Kassandra bei, auch verstockte, kleine Dörfer, Weiler oder auch Einzelhöfe. Aber vielleicht gebe es ja doch eine Beiz dort, einen Bären oder Löwen oder ein Bedli, ein ehemaliges Badhaus, eine Riesenhütte mit tiefgezogenem Dach und Geranien vor den Fenstern, ganz unverdächtig, fügte sie hinzu. Und Luzia solle ihr nun sagen, was sie mit dem herumgeisternden Greis gemeint habe, denn sie nehme ihr nicht ab, dass sie plötzlich auf Träume stehen würde.

Mittlerweile fuhr das Auto in einem weiten Saal von Baumstämmen, durch welche sich das graue Band der Strasse wie eine Fährte seltsamer Tiere wand. Es herrschte eine Dämmerung wie in einer mittelalterlichen Kathedrale und immer mal wieder ragten Baumstrünke aus dem schwarzbraunen Boden hervor wie Altare in den Seitenschiffen. Und wie Kerzenflämmchen leuchteten vereinzelt knallgelbe Blätter aus den Säulenstämmen. Sie verdichteten sich zu Ansammlungen von Lichtern und plötzlich strahlte eine ganze Kuppel junger Ahornbäumchen mit stechendgelbem Blattüberzug am Rande der Strasse auf. Fast gleichzeitig knallte das Strässchen aus dem Wald hinaus über eine kleine Kuppe und ein breites grünes Wiesenband senkte sich zu einer Mulde, in der grünbraune Dachtiere hingeduckt hockten. Auch in dieser Gruppe brannten Ahornbäume in loderndem Gelb. Von der Mulde aus stachen einzelne Wiesenfinger in schmalen Bändern in das Fichtenmeer, das die Hügel überfloss. Dort, sagte Kassandra, in einem dieser mickrigen Wiesenfinger liege das Ghütt, in dem der Mann mit Namen Egli zu Tode gekommen sei.

Eben, sagte Luzia, und es sei schon ziemlich seltsam, dass ein gewesener Röntgenarzt und mordender Greis hier draussen gestrandet sein solle. Und noch fraglicher sei, fügte Kassandra hinzu, was das Ganze mit Zirkus zu tun habe. "Das einzige was hierher gehört, ist der Stumpen", meinte Luzia. Ob sie denn etwas herausgefunden habe, fragte Kassandra endlich und wies sich im Stillen zurecht wegen ihrer Verstimmtheit darüber, dass jemand anderes ihr im Wissen voraus sein sollte. Luzia griff sich ein winziges Notizbüchlein aus der Tasche. "Nun," begann sie, "nichts, was wirklich hierher passen würde, dünkt mich jetzt." Und sie blickte sich unbehaglich um. "Obwohl natürlich andererseits genau das Gegenteil auch denkbar ist! Ja, wenn man es sich genau überlegt – warum sollte sich das nicht alles genau hier zugetragen haben? Man könnte natürlich", sie geriet plötzlich in Eifer, "man könnte natürlich umgekehrt auch sagen, dass genau das hier perfekt in die Geschichte passen würde!" Kassandra fühlte wieder den kleinen Stich. Und eine kleine Gereiztheit war in ihrer Stimme, als sie sagte, dass Luzia jetzt endlich aufhören solle, um den heissen Brei herum zu reden.

 

4

Gerade gelangten sie an die Gabelung der Strasse, um die herum die Häuser standen, typische Hofhäuser der Gegend: Grosse Holzbauten mit protzigen Fassaden nach vorne und Haubendächern, die Wohnhaus, Scheune und Anbauten ganz bedeckten sowie kleinere Nebenhäuser, Stöckli genannt, in die früher die Grosseltern gezügelt waren, kaum dass der älteste Sohn die Wirtschaft übernommen hatte. Das waren die wohlhabenden Höfe gewesen, die im Zentrum des bebauten Landes standen, ganz anders als die kleinen Hütten der Taglöhner, der Holzfäller und Kleinbauern, die sich irgendwo an einen Waldrand oder in eine schattige Lichtung gedrückt hatten. Vor dem grössten der Häuser standen einige Gartentische unter zwei riesigen Linden und auf einem Podest in halber Höhe der Fassade reckte sich eine wohlgenährte Bärenfigur in die Höhe: Die Dorfbeiz. Kassandra bremste scharf. "Genehmigen wir uns zuerst eins", sagte sie. Und Katerchen, der bisher unbeeidruckt im Fond des Wagens ein Nickerchen genommen hatte, kriegte Auslauf. "Aber geh nicht zu weit", mahnte Kassandra ihren zweiten Assistenten, und er solle vor allem keinen Krach mit den hiesigen Hofkatern beginnen, das seien richtige Raufbolde. Katerchen schaute sie beleidigt an. Was für Vorstellungen Menschen manchmal hatten! Er wusste doch längst, wie es in der rauhen Bauerngesellschaft zu und her ging, wozu schliesslich war Kassandra sonst in die Provinz gezügelt?

Eine ältliche Frau mit breiten Hüften in einer verblichenen Serviererinnentracht kam misstrauisch näher. "Was we-iter?" brummte sie im verquetschten Dialekt der Gegend. Und dass die beiden Frauen ein Bier bestellten, schien ihr durchaus nicht in den Kram zu passen, sie verharrte, als würde sie eine Korrektur der ungehörigen Bestellung erwarten und werkelte erst noch etwas an einem mit Kram überladenen kleinen Tisch herum, der an der Hauswand stand und als Aussentheke zu dienen schien. Erst als eine weitere Weibsperson von noch fülligeren Ausmassen in der Türe erschien und stechig guckte, verschwand sie brummelnd im Haus.

"Also", forderte Kassandra Luzia auf und diese nahm wieder ihr Büchlein auf. Sie habe, meinte sie, bei den drei Eckpunkten begonnen, welche ihr Kasandra genannt habe. Röntgenarzt, "Snoozy" Egli, Zirkus – denn mit dem stumpenrauchenden, mordenden Greis sei es wohl schwieriger, habe sie gedacht. Aber vorerst sei aus den drei Begriffen nichts herauszuholen gewesen, Egli habe es einige Tausend gegeben und auch mehrere Ärzte, Urologen, Neurologen und alle möglichen Spezialisten, aber keinen Röntgenarzt oder Radiologen, wie man da wohl fachlich dazu sage, mit "Snoozy" sei man gar nicht weitergekommen, ausser dass der Begriff englisch sei und soviel wie "schläfrig" bedeute, was wohl mit dem Benehmen des so Gerufenen zu tun habe Kassandra nickte: Das mit dem Englischen habe sie auch herausgefunden. In Kombination mit dem Begriff Zirkus, fuhr dann Luzia fort, habe sich immerhin der Name eines Artisten ergeben, der offenbar mit Zaubernummern aufgetreten sei. Dessen Lebenslauf sei immerhin einigermassen interessant und auch international gewesen, aber ein wirklicher Hinweis auf eine Verbindung zu diesem Krachen hier oder auch nur zu Stadt in der Nähe habe sich nicht ergeben.

Polternd und ihre Missbillligung vor sich herschiebend tauchte die verbrauchte Servierschürze aus der Gaststube und die Biergläser wurden auf den Tisch geknallt. "Zum Wou-sii" hing einen Augenblick lang noch der ortsübliche Prositgruss unter den Linden und er tönte wie eine Drohung. Kassandra schaute ihr nach: "Wenn man..." "Moment", sagte Luzia und hob das Glas, "ich hab noch was!" Kassandra hob ihr Glas ebenfalls: Zum Wou! Luzia stöhnte genussvoll auf und setzte das Glas wieder ab. Wie es so gehe, fuhr sie fort, es sei immer jenes Ende des Fadens, das man unbeachtet hab liegen lassen, das Interessanteste. Mehr so aus Verdruss habe sie mit dem stumpenrauchenden Greis ein wenig herumgespielt und als erstes sei der Hinweis auf eine Erzählung aufgetaucht, von der sie auch schon gehört habe, die ihr aber natürlich nicht in den Sinn gekommen sei. Es sei das Buch eines einheimischen Autors, das vor ein paar Jahren ziemlich überraschend mal in den Bestsellerlisten des Landes aufgetaucht sei "D’r Schloter", habe es geheissen, in in Mundart geschrieben, den Titel habe sie sicher auch schon gehört, es habe sogar einen Film davon gegeben. Gehört schon, meinte Kassandra, aber sie habe das Buch nicht gelesen und den Film nicht gesehen, obwohl damals im Städtchen ziemlich die Rede davon gewesen sei, aber aus ihrer Sicht sei das eine lokale Begeisterung für eine Geschichte gewesen, die das eigene Handeln entschuldige und niemanden betreffe. Luzia schaute etwas überrascht. Das habe sie sich noch nie überlegt, die Äusserung des Autors, dass er am Liebsten über Verlierer schreibe, habe ihr gefallen. Eben, sagte Kassandra trocken, niemand sieht sich selbst als Verlierer, darum liest man gerne davon. Verdienstvoller wäre es, wenn man über die Unbequemen schreiben würde, jene, die man nicht gerne hört, die aber Wahrheiten sagen. Aber da würde man sich eben aussetzen und der Erfolg wäre wohl geringer.

Eine verspätete Sommerwärme hatte sich vor der Hauswand eingenistet, weit auf der Wiese draussen summte ein Motor und Wespen suchten zwischen den Tischen nach den gewohnten süssen Verlockungen, die den Sommer über eine Art Schlaraffenland für sie gebildet hatten. Luzia nickte langsam: Das passe nicht mal schlecht, sagte sie, wenn sie es sich so überlege. Denn die Erzählung schiebe die ganze Verantwortlichkeit für eine unschöne Geschichte auf eine Person, hinter der man sich bequem verstecken könne, weil sie nicht gerade sympatisch daherkomme. Eben ein „schlotender“ – das Dialektwort für Rauchen, auch fürs Rauchen bestimmter Substanzen – entgleister Junge, als greisenhaftes Gespenst gezeichnet, als eigentliches Abbild des Verführers selbst, wie einige Pressekommentare meinten. Und trotz der Versicherung des Verfassers, dass die Gestalt frei erfunden sei und bloss versucht worden sei, einige rätselhafte Ereignisse in eine Geschichte einzuweben, seien nicht wenige überzeugt davon, dass hier einer endlich die Wahrheit geschrieben habe über jene unschönen Geschehnisse und über den schädlichen Einfluss gewisser Substanzen.

Kassandra nickte: Eben, man sei froh, wenn man alles auf solche Typen schieben könne, sich in der Gewissheit suhlen, dass man selbst nicht so sei. Es sei natürlich möglich, dass ihr das Unterbewusstsein einen Streich gespielt habe – obwohl damit nicht erklärt sei, woher denn der Schläfrige und der Name Egli aufgetaucht seien...

Nun ja, sagte Luzia, es sei ja durchaus so, dass einige Fakten dazu tatsächlich vorhanden seien, es sei in der Tat zu einer gewissen Zeit vor etwa vierzig Jahren hier in der Gegend Seltsames geschehn, es habe mysteriöse Todesfälle gegeben und sogar eine polizeiliche Untersuchungen, die aber im Sande verlaufen seien. Neben vielen andern sei auch der Name Egli aufgetaucht, so habe der örtliche Polizist geheissen, Landjäger, habe man damals gesagt, der in die Gegend versetzt worden sei und für den man nur ein mickriges Taglöhnerhaus übrig gehabt habe, für den Zugezogenen, obwohl die Familie zwei Söhne gehabt habe. Es gebe Stimmen, welche die Figur des Schloters dem älteren der Söhne zuordne. Und vielleicht habe Kassandra gerade darum von diesen Geschichten gehört, denn ihr Freund, der Polizeidirektor Sutter, sei, soweit habe sie die Sache in den Zeitungen von damals recherchieren können, zu jener Zeit als einfacher Polizist in die Ermittlungen involviert gewesen und er habe sich ziemlich deutlich gegen die Einstellung der Verfahren geäussert, weil er den älteren Egli für unschuldig gehalten habe. Er sei denn auch in dem Buch des örtlichen Schriftstellers schlecht weggekommen deshalb. Sie könne das nachlesen. Und sie schob das Buch über die narbige Metallplatte des Gartentisches. Kassandra liess es liegen. "Sieh mal an, der Herr Polizeidirektor!" murmelte sie und starrte gedankenverloren auf die reiche Fassade des Bären.

 

5

Die tiefstehende Herbstsonne hängte noch Wärme vor die grosse Front, so dass es durchaus noch auszuhalten war draussen. "Frölein!" Kassandra richtete sich plötzlich auf und Luzia kramte bereits nach der Tasche, aber Kassandra winkte ab. „Ich weiss nicht warum, aber mich dünkt, dass der Schlüssel zu der ganzen Geschichte hier im Bären liegt.“ Wie sie denn jetzt darauf komme, wollte Luzia wissen, von dem Gasthof sei in den ganzen Geschichten und auch in dem Geschreibsel über den Schloter nie die Rede gewesen. Eben, fand Kassandra, das mache es umso verdächtiger. Sie könne sich des Eindruckes nicht erwehren, dass da viel mehr und ganz etwas anderes im Hintergrund sei als das, was sie vermuten würden.

Von der Fassade wanderte ihr Blick zum Vorplatz und Kassandra dachte, dass die ganze Gartenwirtschaft doch einen recht verkommenen Eindruck mache, so, als werde sie gar nicht richtig genutzt: Die angerosteten Tische standen schief und wie zufällig unter den Bäumen herum, da und dort hingen von den Stühlen die Kunststoff-Seile der Sitze und Lehnen wie müde gewordene Würmer verbleicht herunter und nirgends war eine Menuekarte oder ein Aschenbecher zu sehen auf den Tischen, ganz zu schweigen von den üblichen Dekorationen. Das Ganze hier wirke doch wie eine Kullisse, meinte Kassandra. Und nochmals rief sie nach der Bedienung, denn es hatte sich im Hause gar nichts geregt auf ihren ersten Ruf hin.

Sie war schon drauf und dran, sich in der Gaststube zu erkundigen, als die noch Fülligere im Türrahmen erschien und hinüberspähte. "Exgüsé", rief Kassandra, und ob man vielleicht hier draussen doch noch etwas serviert bekäme, man habe ja nicht alle Tage noch so eitel Sonnenschein. Aber die Einheimische schien keinen Sinn für Poesie zu haben. Brummig watschelte sie näher und begann langatmig zu reklamieren, dass man nicht das Personal habe um Sonderwünsche – und überhaupt, was denn an der Sonne so apartig sei und ob man in der Stadt – "Exgüsé", wiederholte Kassandra, und ob sie die Wirtin sei. Die andere nickte unlustig und ob das etwas ändere. Äbe ja, meinte Kassandra, und man hätte gerne ein paar Auskünfte zu alten Geschichten gehabt und ob sie nicht hier – Die andere hob die massigen Schultern. Alte Geschichten, wen denn das schon interessiere. Hä ja, man arbeite halt an einer Sendung über den Schloter, sie kenne doch sicher das Buch. "Sendung?" fragte die Wirtin und Kassandra nickte eifrig: "Genau, Schweizer Fernsehen, wissen Sie". Luzia blickt angestrengt woanders hin. Dass Kassandra so gedruckt lügen konnte! Aber die Füllige war nicht auf den Kopf gefallen. Ja, wo denn die Kamera sei und ob man nicht – "Eben", sagte Kassandra, "wir recherchieren erst, wir erkundigen uns, wir schauen uns um. Erst danach werden wir entscheiden, was wir wo aufnehmen – aber ganz sicher werden wir eine Sequenz zum Bären einblenden. "Der Gasthof", sie betonte das Wort bewusst, "ihr Gasthof ist ja so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt hier im Tal, nicht wahr?"

Die Wirtin schaut über Kassandra hinweg ins Nichts. "Dreh- und Angelpunkt!" murmelte sie und damit schien etwas ausgelöst. "Wurst und Brot", kam es unvermittelt, und ob das vielleicht genehm sei. Man sei halt nicht so fürs Essen eingerichtet, meinte sie, als sie kurz darauf eine reichhaltige Platte auf den Tisch stellte. „Nicht fürs Essen?“ Kassandra zog die Brauen in die Höhe. Und nun geriet die Füllige in eine Jammertirade, von der sie wohl selbst überrumpelt wurde. Es sei eben nichts mehr wie früher und ausser dem Doktor komme sowieso niemand aus der Stadt und bei dem sei es einewäg etwas anderes und Leute bringe er nie mit, jedenfalls nicht solche Leute – sie verstummte plötzlich mitten im Satz und stand auf.

Aber Kassandra gedachte nicht so schnell aufzugeben und lenkte ab. Ob sie denn schon lange hier sei und ob sie das Dorf kennen würde, fragte sie in lockerem Ton. Die andere zögerte einen Moment und schaute wieder an den beiden Frauen vorbei. Aufgewachsen sei sie hier, sagte sie leise und wohl-wohl, da kenne man die Leute halt schon ein wenig, mit der Zeit. Ganz abwesend sprach sie und ihr Ton hatte sich verändert. Wie denn das sei, fuhr Kassandra behutsam weiter, ob der Doktor auch damals, als sie jung gewesen sei, schon – „Der Doktor?“ die Wirtin starrte sie mit grossen Augen an und Kassandra hätte geschworen, dass sie dabei ganz andere Dinge sah als ihr Gesicht, „der Doktor hat damit gar nichts zu tun!“ Ein bisschen hastig kam das, fand Kassandra und überhaupt war die Frau jetzt verändert. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze und ihr Ton hatte wieder etwas Jämmerliches: Man solle sie endlich in Ruhe lassen und sie könnten ja das Buch lesen, darin sei alles erklärt auch wenn der Pesche, der Schreiberling, behaupte, dass die Personen erfunden seien. Dabei sei er ja selbst auch dabei gewesen, damals. Kassandra atmete durch: Ob denn der Egli auch da verwickelt gewesen sei?

Wieder veränderte sich die Wirtin von einer Sekunde auf die andere, ihr fülliges Gesicht wurde fast mager und alle Farbe wich daraus. Der Egli, jedenfalls der ältere, der sei ein anderer Fall gewesen. „Der war ein guter Mensch,“ sagte sie mit seltsamer Wärme, er sei einfach unter die Räder gekommen, damals, bloss weil sein Alter ein Zugezogener gewesen sei, ein Landjäger, der hier hätte nach dem Rechten sehen sollen und das auch tat, ohne Unterscheidung des Ansehens und Vermögens und das hat man natürlich nicht gern. Aber gegen den Alten habe man nichts ausrichten können und da habe man halt alles auf den jungen geschoben, damals, obwohl der schon recht gewesen sei, sauber und gerade, wie der Vater, da könne der Pesche, der Schreiberling, hinschmieren was er wolle. Ob es denn, fragte Kassandra behutsam, ob es denn der Egli sei, den man gestern da hinten gefunden habe, hängen, im Heuboden der Scheune... Angst! Jetzt stand helle Angst in den Augen der andern. Mit einem kurzen Blickwechsel tauschten Kassandra und Luzia ihr Einverständnis dazu aus. Und die Stimme war schrill jetzt: Wie man denn darauf komme? Natürlich nicht, der sei ja nicht hier, den habe man ja damals – eben, er sei in Amerika gewesen, er sei noch, er sei, er habe, er würde nie – sie verhedderte sich in den Worten und dazwischen war es wie Schluchzen, und natürlich sei es der junge Egli gewesen, der kleine Bruder, der Taugenichts und Leichenfledderer und überhaupt ein ganz Halbseidener sei das gewesen und er habe jetzt die Quittung erhalten. Die Quittung! Sie schrie es beinahe hinaus und das blanke Entsetzen stand in ihrem Gesicht. Unstet irrten die Augen umher, fixierten plötzlich das Gesicht Kassandras und ihre Stimme wurde hart. Sie habe jetzt genug davon, dass man die alten Geschichten aufwärme und sie glaube überhaupt alle die Lügen nicht mehr, überall Lügen, im Fernsehen, in den Büchern, dieses Geschmiere. Lügen, nichts als Lügen, keifte sie weiter, jetzt schon ein wenig erschöpft, wieder weinerlich.

Aber trotzdem blieb sie, hockte versunken da. Man musste warten. Dann war die Stimme leise: In der Schule, im Dorf, immer habe man alles auf den Egli geschoben, ihm die Schuld zugeschoben, die Strafe. Er habe sich nicht wehren können, zu langsam sei er gewesen, zu verträumt, Schlafmütze habe man ihn geschimpft, der Schläfrige, habe man ihn genannt, auch da sei der Pesche, der Schreiberling, ungenau gewesen. Aber einmal sei es dann genug gewesen, damals, als man ihn wegen der Todesfälle verdächtigt habe, da sei Egli eines Tages verschwunden, einfach weg gewesen, und lange habe man nichts mehr gehört oder jedenfalls nur Gerüchte, er sollte in Italien gesehen worden sein, dann in Frankreich, schliesslich waren Briefe aus unbekannten Orten eingetroffen, die der Lehrer im Atlas suchte. Marokko, und die Briefe erzählten von Scharmützeln und einem Dasein als Legionär. Fremdenlegion. Die Briefe – die Frau wurde rot und Luzia verstand erst, als Kassandra mit leiser Stimme nachfragte und die Wirtin schliesslich eingestand, dass sie ihn getröstet habe in jener Nacht als – dass sie es aber nicht vermocht habe, ihn zurückzuhalten und dass er ihr versprochen habe, von sich hören zu lassen, dass aber eben jene Briefe nach Jahren die ersten Zeichen gewesen seien und da habe sie eben schon dem Hansjörg, dem Sohn des Bärenwirtes ihr Wort gegeben. Und es sei ja überhaupt nicht sicher, dass er jetzt zurück gekommen sei – das seien nur Gerüchte, niemand habe ihn wirklich gesehen, den Egli, den sie den Schläfrigen nannten, zu unrecht, so wach wie er sei keiner gewesen. Dann schwieg sie, als wäre damit endlich alles wieder gerade. Die Sonne blieb einen Augenblick in den Bäumen hängen und alles rundherum schien den Worten nachzulauschen, jenem Moment.

"Mutter!" Die Wirtin fuhr auf und unter einer Nebentüre mit der Aufschrift "Privat" stand ein lang Aufgeschossener und schon fuhr der Frau wieder die Röte ins Gesicht. "Mein Sohn!" sagte sie und Kassandra dachte, dass das allein kein Grund sei, rot zu werden. Ausser, wenn man eben gerade vom älteren Egli gesprochen hatte, der ersten und kurzen Liebe einer Bauerntochter im engen Voralpental. Und ist nicht die erste Liebe oft die Intensivste? Und was war, wenn davon ein Andenken blieb und der Liebste so fern und vielleicht schon tot war? Kassandra rief sich zur Ordnung und zügelte ihre galoppierende Phantasie. Warum aber stand Hoffnung in den Augen des Jungen? Wie alt mochte der Jüngling sein? Fünfundzwanzig, dreissig? Und wie alt waren die zwei gewesen, damals, die Wirtin und der ältere Egli, als er verschwand? War sie damals schon um die zwanzig gewesen oder gar... in Kassandras Kopf wirbelten Zahlen, aber die Ereignisse liessen ihr keine Zeit, "D’r Vatter isch zrügg" sagte die heisere Stimme von der Türe her und diesmal gefror das Gesicht der Wirtin. "I chume", gab sie Bescheid und heftig eilte sie zum Haus hin.

 

6

Luzia und Kassandra blieben sitzen und liessen die Bilder in den Köpfen vorbeiziehen. Wo war der Wirt gewesen? Wie hatte er denn reagiert, als er hörte, dass der ältere Egli wieder zurück sei? Denn dass er zurück war, da waren sich Luzia und Kassandra sicher. Was war da im Gange? Beide merkten gleichzeitig auf: Der Motor draussen auf den Wiesen war verstummt, kein noch so leises Geräusch war zu hören. Mit einemmal wurde Luzia bewusst, was das Wort Totenstille bedeutete. Alles rundherum schien den Atem anzuhalten: Es war ausgesprochen worden, endlich, nach Jahrzehnten hatte es jemand gewagt! Dann brach mit plötzlicher Urgewalt tobender Lärm aus dem Haus, Schläge, geschrieene Wort, Geschepper und zerbrechendes Geschirr. Die Haustüre wurde aufgerissen, der Brocken von einem Wirt erschien und stierte in den dämmrigen Garten. Luzia duckte sich automatisch abwehrbereit. Hinter dem Brocken peitschte eine Stimme Worte gegen den Rücken, einzelne Wort, aufgeben, sinnlos, genug, genug und immer wieder sinnlos, keinen Sinn, ohne Sinn und plötzlich war der Brocken verschwunden und die Wirtin stand im Rahmen wie eine Erscheinung von drüben. Unstet wanderten ihre Blicke umher, blieben dann an den Frauen hängen, Hände griffen fahrig nach den Stühlen und den Tischen, wie haltsuchend. Ein Geräusch aus einem der Fenster und schreiende Angst stand in den Augen der Wirtin: „Schnell“, keuchte sie, „ums Himmelswillen schnell!“ Und bevor Luzia die Geräusche richtig einordnen konnte, war Kassandra schon durch die Türe und hastete die Treppe zu den Zimmern hinauf. „Loslassen!“ schrie sie, „lass los du Teufel“ Holz spitterte, ein dumpfer Fall und wie ein fallender Fels krachte der Brocken von Wirt die Treppe hinunter und dann durch eine Türe.

Kassandra kniete über einer liegenden Frau und blickte auf. „Sie kommt wieder auf die Beine“, sagte sie, man brauche Wasser und einen Lappen. Die Wirtin hastete weg und Kassandra und Luzia legten die Frau aufs Bett. Blonde lange Haare, fremdes Gesicht, schlanker, leichter Körper und gemurmelte, fremde Wort. Als die Wirtin mit dem Wasser kam, tauchte endlich ihr Gesicht aus der Maske auf, ein weiches Gesicht, liebevoll. Abwesend strich sie mit dem nassen Lappen sanft über die Augen der Jungen. „Gottseidank“, flüsterte sie, „weg, endlich alles weg.“ „Alles?“ fragte Kassandra und zog die Brauen in die Höhe. „Unten“, fuhr die Wirtin fort, „ich zeigs euch, unten im Büro.“ Kassandra nickte. Vielleicht sei es besser, wenn Luzia mal hier bleibe, es scheine, als seien gewisse Leute zu allem entschlossen.“ Die Wirtin blickte sie starr an: „Drüben, flüsterte sie, „in den andern Zimmern sind noch mehr!“ Das Brüllen einer Stimme im Haus unterbrach sie: „Sauvieh! Verdammtes Dreckvieh!“ und dazwischen fauchte und zeterte eine Katzenstimme, die Kassandra kannte: Katerchen hatte angegriffen! Aber warum - dann schnupperte sie und ob jemand in der Nähe ein Feuer – „Jesses!“ Die Wirtin fuhr in die Höhe, „er wird doch nicht – „ und schon war sie an der Treppe! „Feuer!“ schrie eine Stimme unten, begleitet von kreischendem Katzenfauche, man hörte ein Kesseln und Rumpeln und dann rauschte Wasser. Die Wirtin hastete ans Telefon – tot, sagte sie und zeigte den Hörer. Kassandra hob ihr Mobiltelefon, machen wirs halt mit dem. „Kein Empfang“, sagte die Wirtin, „bloss draussen, drüben bei der Linde...“ Und Kassandra hastete aus der Türe. Draussen heulte der Motor eines grossen Wagens auf und Kies prasselte gegen die Hauswand.

Luzia hastete hinter Kassandra zur Treppe hin, als ein Fenster splitterte und gerade als eine Gestalt im Fensterrahmen auftauchte, war Luzia wieder beim Bett. „Gute Reise“, sagte sie, riss dem Einsteiger die Beine vom Boden und beförderte ihn mit einem schnellen Griff nach draussen. „Die Sprache wird er ja wohl verstehen!“ Da erschien auch schon Kassandra im Zimmer. „ Alles klar?“ fragte Luzia. „Die Saubande“, zischte Kassandra und Luzia hatte noch nie soviel Wut in ihrem Gesicht gesehen, „haben die Feuerwehr sabotiert, drei Traktoren vor der Garage und als man einen abschleppen wollte, flog er gleich in die Luft! Aber die haben nicht mit uns gerechnet! Zum Glück hat Katerchen eingegriffen, das Feuer ist klein geblieben.“ Und schon war sie wieder unten. Zögerlich waren die Männer aus den Nachbarhäusern angerückt, aber als sie gesehen hatten, dass der Wirt nicht da war, ging es schnell. Man hatte ein paar Jaucheschläuche angehängt und sofort war genug Wasser da. Zwar sahen das Office und die Geschäftsräume danach arg ramponiert aus, aber man würde wohl noch genügend Unterlagen finden. Ausserdem war es, als hörte man das ganze Dorf aufatmen, als bekannt wurde, dass sich der Wirt „zusammen mit den andern“ aus dem Staub gemacht habe.

Zuerst, sagte der Sohn mit seiner brüchigen Stimme, zuerst sei ein fremdes Auto gegen das Taunerhüsli gefahren, dorthin, wo man den Egli gefunden habe, vori grad, und er habe nicht gewusst, wer das sein könne. Ke Tschugger emu, habe er gedacht, meinte das Jüngelchen und drum sei er hinterher, mitem Töffli äbe, und da habe er gesehen, wie der Vater mit ein paar andern zusammengestanden sei, dort beim Taunerhüsli, wo man den Egli gefunden habe, er habe nicht alle erkannt, aber äs si so Herre derbi gsii, söttigi mit Krawatte u der Dokter ou! Dann seien die Herren eingestiegen und abgefahren und er habe den Vater davonhasten sehen. Aber da sei eben das chrutze Töffli wieder mal abgestanden und er habe zu Fuss zurückkommen müssen und gerade, als er angelangt sei, sei der Vater in die Küche getrappt mit einem ganz komischen Blick. Wohin denn der Vater jetzt gefahren sei, seiner Meinung nach. Kassandra spürte eine Unruhe wachsen. Der Sohn zögerte, aber als er sah, dass seine Mutter ganz verändert war, mit einer neuen Sicherheit aufrecht dortsass und aus der Gaststube erstmals seit langem wieder den ganz normalen Wirtshauslärm hörte, schluckte er: Ar Stadt zueche, dänkeni!

„Nun denn“, sagte Kassandra, Zeit, „dass wir zu einem Ende kommen!“ Sie stand auf, man komme dann zurück und ob man solange mit der Rechung warten könne. Die Wirtin legt ihr die Hand auf den Arm: Sie solle aber aufpassen, mit dene isch nid zgspasse, sagte sie leise. Aber da hatte Kassandra Luzia schon durch die Türe geschoben. Keine Bange, sagte sie, aber ohnehin sei der Spass nun zu Ende, nur müsse man jetzt schon äs bizzeli tifig machen, sie möge entschuldigen, aber das sei nun angebracht.

 

7

Dann endlich kam man zur Traumsequenz: Denn in der Stadt war grosser Jahrmarkt und wie in den Traumfetzen zogen lärmende und ausgelassene Menschen durch die Gassen und tummelten sich an Buden und in Zelten. Aber irgendwo in dem Trubel wurde eine Abrechnung vorbereitet.

Die Fahrt durch die Hügel schien bereits zu der Traumerscheinung zu gehören, so unwirklich waren die zögernden Striche der Hügelkanten im Dämmerlicht, so ohne Plan wand sich das unsichere Strassenband durch den Scherenschnittwald und entlang halbdurchsichtiger Mauern. Selbst die Strassenlichter der Aussenquartiere erschienen als böse flackernde Irrlichter, die Verwirrung stiften wollten. Luzia hatte immerhin den Herrn Polizeichef informieren können, der nun allen seinen Mut zusammennahm und angesichts der Gewissheit, dass man nun endlich die Hintermänner an der Gurgel habe, sich zur Missachtung der Weisungen von oben entschloss und seine Männer in den Trubel schickte.

Kassandra, welche die Stadt mittlerweile ein wenig kannte, zog Luzia zu einer Strassenecke, an welcher unweigerlich, wie sie sagte, jeder, der hier mitschwimme, vorbeikommen müsse. Und wie im Traumbild war da die Theke einer hastig errichteten Aussenbar, an der man ausschliesslich einen spanisch angehauchten Drink ausschenkte. Das Eis knirschte in die Plastikbecher und die Aushilfsbedienung hinter der Theke fummelte nach den Münzen in der Kasse, als Luzia Kassandra anstiess. Genau gegenüber hatte sie ein Gesicht erblickt, dessen eine Hälfte wirkte, als wäre sie mit einem Faden an einen Nagel über dem Kopf aufgehängt. Trötend und grölend näherte sich gerade eine Gruppe junger Leute, die einen Clown umringten. „Der letzte lustige Tag“, stand auf einem Pappschild, das er um den Hals trug und die Harlekine, die ihn begleiteten, plapperten alle Umstehenden an und fragten nach einem Poltergeschenk für ihren Kollegen, der leider morgen in den gebundenen Stand übergehen würde. Wie von Geisterhand tauchten in diesem Moment aus dem Gewühle immer weitere bekannte Gesichter auf, schwarzgekleidet oder in Hemd und Kittel und wie Treibholz auf der Flut erschien mittendrin eine Baskenmütze auf wildem Haarschopf, ein markantes Greisengesicht mit einer Zigarre in den wulstigen Lippen über einem rotleuchtenden T-Shirt mit dem schwarzen Portrait des kubanischen Revolutionärs. Schon blitzten die Messer auf, Eisenstangen, Fäuste um Totschläger gepresst reckten sich und enger und drohender drängte die ganze Meute auf die Bar zu. Luzia riss eine Trillepfeife hoch, liess sie aufschreien und sofort hechteten aus allen Ecken Maskierte in Kampfanzügen auf die Schlägertruppe, reihenweise gingen die Menschen zu Boden und Körperknäuel krachten in die Bar, die splitternd in Stücke ging. Und in diesem grossen Strudel lösten sich die Gespenster der vergangenen Jahre auf und die Masken fielen ab.

 

8

Auch der zähhaftende Traum war damit verschwunden, keines der Bilder war wieder aufgetaucht in dieser Nacht. Kassandra räkelte sich in der ungewohnt weichen Matraze und kämpfte sich dann durch umfangreiche Decken und Kissen aus dem altmodischen Bett und tappte über kühle Holzfliesen zum Fenster hin. Das Glas bestand aus mehreren kleinen Quadraten, die in einem Holzraster eingefügt waren. Kassandra stiess die altmodischen Fensterflügel auf: Vom Dunst weichgezeichnet schimmerten die gelbgrünen Lindenkronen vor der Fassade. Sie blickte dem stattlichen Bären, der aufgerichtet auf dem Podest an der Hausecke stand, direkt auf den Kopf. Sauber ausgerichtet standen die Metalltische und Simon, der Sohn, war schon mit Glaspapier und Pinsel daran, die gröbsten Rostflecken auszubessern. Dort, wo er fertig war, faltete die ehemals brummige Bedienung Stofftischtücher in verschiedenen Farben auseinander und steckte Karten in kleine Blumentöpfchen. Kassandra schmunzelte. Wie schnell sich das verändert hatte: War es wirklich erst gestern gewesen, dass man hier kaum ein Bier erhalten hatte? Die Frau unten blickte unvermittelt zur Fassade hinauf und strahlte übers ganze Gesicht, als sie Kassandra erblickte. Ob sie den Kaffee gleich hier draussen servieren solle?

„Na ja“, sagte Kassandra, als sie mit Luzia am Tisch sass und den Kaffee aus riesigen Ohrentassen trank. Tisch und Nebentisch waren überladen mit Frühstücks-Beilagen. Als ob wir von der Stallarbeit kämen! hatte sie gelacht. Aber die Wirtin war ernst geblieben: Es sei wohl mehr als die gröbste Bauernarbeit gewesen, was sie gestern geleistet hätten, meinte sie bestimmt und liess sich nicht davon abbringen, mehr und mehr aufzutischen. „Na ja“, sagte Kassandra also, „so ganz verlassen kann man sich auf die Traumgespinste denn doch nicht! Das war ein ziemlich wildes Gemischel.“ Aber Luzia grinste: „Nun, es ist ja eigentlich alles vorgekommen, die Zirkusclowns, das Menschengetümmel, der Doktor, der stumpenrauchende Greis namens Snoozy – nur eben stimmte die Zuordnung nicht ganz. Gemordet hat nicht der Greis sondern die smarte Gesellschaft des Doktors, der auch nicht ein eigentlicher Röntgenarzt ist, jedenfalls nicht spezialisiert, wenn er auch in dem kleinen Provinzspital wohl überall reinpfuscht, die Clowns kamen nicht aus dem Zirkus und der Umzug war eher so eine Art Saubannerzug...“ - „... der bei einem Haar in einem Lynchmord geendet hätte!“ ergänzte Kassandra. „Nur gut, dass Sutter über seinen Schatten gesprungen ist und seine Jungs rechtzeitig da waren!“

„Genau“, sagt da eine Stimme in ihrem Rücken, „da ist man dann doch froh über den Alten, nicht wahr?“ Aber für einmal war der Tonfall weder grimmig noch beleidigt, sondern zeugte von einer ausnehmend guten Laune. „Na,“ fügte der Polizeichef in einem seltenen Anfall von Neckerei hinzu, „das sieht ja hier aus wie in einem all-inclusive-Urlaub!“ „Besser!“ strahlte Kassandra und er solle sich doch bitte hinsetzen, denn wie gesagt, eigentlich hätte er den Hauptverdienst am glücklichen Ausgang.

Und diesen Moment vergass Kassandra dann nicht so schnell: Der Herr Polizeipräsident wurde tatsächlich verlegen und wehrte ab. Man solle nicht so ein Tamtam machen, meinte er, schliesslich habe man die ganze Gesellschaft schon seit Jahren auf dem Radar gehabt, jedenfalls er selbst, es sei schon fast so etwas wie ein Hobby gewesen, seit er in jenen frühen Jahren auf eine beschämende Art kaltgestellt worden sei. Nur habe er nie richtig zugreifen können, sowieso nicht bei jenen anfänglich kleinen Gaunereien mit gepanschter Milch, nicht ganz sauberen Fleischgeschäften, auch nicht bei den immer umfangreicheren Betrügereien mit staatlichen Zuschüssen, bei den seltsamen Todesfällen und sogar beim jüngsten Geschäftszweig, der Beschaffung von Frauen für örtliche Bordelle und verschiedensten Drogen und Suchtmitteln. Immer hätten es die Köpfe der ganzen Gesellschaft verstanden, sich Rückendeckung bis hinauf in höchste Kreise zu verschaffen. Es seien ja auch zahlreiche Politiker und hohe Beamte involviert gewesen. Immerhin sei denen der Boden nun doch zu heiss geworden, so dass er, Sutter, gerade noch rechtzeitig seine Handlungsfreiheit wieder habe gewinnen können. Aber die Aufdeckung des Dreh- und Angelpunktes im Bären, das müsse er gestehen, das sei ganz allein das Verdienst von Kassandra und Luzia gewesen, denn darauf sei er nicht gekommen, obwohl er immer den Verdacht gehabt habe, es müsse da irgendwo eine Institution zur Reinwaschung der Einnahmen geben. Aber man habe halt mehr in den einschlägigen Kreisen gesucht.

„Ein weiterer Mangel des Traumes“, sagte Luzia lachend, der Bären kam dort auch nicht vor.“ „Aber Snoozy“, sagte Kassandra, „der war so quasi der Wegweiser, ohne ihn hätte die Wirtin wohl noch lange geschwiegen.“ Und dass sein Bruder sich entschlossen habe, zu reden, habe die ganze Sache doch erst ins Rollen gebracht. Plötzlich hätten die Leute handeln müssen. Und wenn man mal mit dem Beseitigen von Mitwissern beginnen müsse, dann trete man eine Lawine los, die einen unweigerlich überrolle.

Das Frühstück zog sich hin und man liess sich auch Zeit. Reichlich floss der Kaffee und nach und nach fanden sich wie zufällig immer mehr Leute aus der Gegend im Garten des Bären ein, so dass eine Art Herbstfest entstand, das von diesem Tag an ein fester Anlass  im Jahreslauf wurde. Und ganz selbstverständlich war die Wirtin zusammen mit dem Mann mit dem Greisengesicht aufgetaucht und mit einem Mal war es, als hätte es die dunklen Jahre nie gegeben. Die Hügel und Matten, die Wiesenfinger und das Waldmeer glänzten in einer warmen Herbstsonne, wie man sie gar noch nie gesehen habe, behauptete Simon. Jedenfalls kamen auch Kassandra und Luzia an diesem Tag nicht los von dem Gasthaus und noch einmal versanken sie in den weichen altertümlichen Betten der Holzkammern.

 

Epilog

Erst Wochen danach trafen sich Kassandra und Luzia wieder in der belebten Beiz auf ein Bier. Es sei, wie es in solchen Fällen immer sei, sagte Kassandra und starrte für einen Moment etwas verdriesslich in ihr Bier. Aber Luzia lachte: Was du noch immer von der Menscheit erwartest! Zwar kommen die wirklichen Drahtzieher einmal mehr fast ungeschoren davon, man sucht sich ein paar unbedeutende Sündenböcke und alle, die jahrelang profitiert oder auch nur geschwiegen oder weggesehen haben, verkünden jetzt lauthals ihre Unschuld. Aber immerhin, sagte Luzia, immerhin hat doch zumindest für zwei Betroffene die Geschichte ihr Leben zum Guten gewendet. Jetzt schmunzelte auch Kassandra, wenn sie an das Bild der Wirtin mit dem greisengesichtigen Revolutionär an ihrer Seite unter den Lindenbäumen vor dem Bären dachte.

Drüben aber, an der Bar wandten einige ihre Gesichter ab und kippten verdrückt ihr Bier. Ihre Gesichter waren noch schiefer als sonst und wenn jemand nach dem Schläfrigen fragte, wussten sie nicht, wer gemeint sein sollte. Nur das Gesicht, dessen eine Hälfte an einem Faden hochgezogen an einem Nagel hing, fehlte. Aber darüber gab es keine Schlagzeilen und auch der regionale Schriftsteller schrieb dazu nichts.

 

Langenthal, August 2015

 

 

Thonbrot um elf

Ein Fall für Kassandra Schwarz (4)

1

Noch einmal hat sich der Sommer zu Wort gemeldet. Schon am frühen Morgen beginnt die Nässe zu verdampfen und für eine Stunde oder etwas mehr hat sich unüblicher Nebel in die Stadt eingenistet. Aber die Sonne setzt sich dann doch durch, die milchige Scheibe wird zunehmend glühend und Kassandra atmet auf: Ihr vormittäglicher Espresso vor dem Bahnhof ist gerettet.

 

Und eigentlich ist auch nicht der Nebel schuld daran, dass sie später als üblich unterwegs ist. Zu Luzia, ihrer engsten Freundin, meint sie später, dass es diese besondere Gesetzmässigkeit gewesen sei, die immer dafür sorge, dass sie zur Stelle sei, wenn etwas Rätselhaftes geschehe. Luzia glaubt allerdings nicht so richtig daran. "Viel mehr ist es so", sagt sie, "dass du immer und überall und in jedes Ereignis eine rätselhafte Geschichte hineindichtest – wobei zugegeben werden muss, dass es sich dann meistens tatsächlich als rätselhafte Geschichte herausstellt."

 

"Das kommt daher", entgegnet Kassandra ebenso regelmässig, "dass die Menschen nicht mehr fähig sind, zu beobachten. Brecht – vielleicht kennst du denn noch? Ein ziemlich verquerer Denker und Schreiber aus dem letzten Jahrhundert – Brecht also nennt es die vergessene Kunst der Beobachtung der Dinge. Wenn du ein Kunstwerk verstehen willst, muss du lernen, so zu beobachten wie der Künstler. Und genau dasselbe gilt für die Wahrnehmung von Menschen."

 

Da war also dieses Ereignis an dem zwischen Regentage geschobenen verspäteten Sommermorgen in dem Bahnhofbistro der Provinzstadt, in der Kassandra seit einigen Jahren wohnte. Es war kurz nach elf, als plötzlich wie bei einer Explosion im Innern des Lokals die Teller fliegen, Scherben splittern und ein Thonbrötchen an die Scheibe klatscht. Es war nicht, wie die meisten nun denken werden, das Kind, das ungezogen das Essen verweigert und um sich schlägt, im Gegenteil, es freute sich sehr auf das Brötchen, hat mit glänzenden Augen schon die Gabel mit dem ersten Bissen zum Mund gehoben, da schoss wie ein lebendiges Torpedo eine der Serviererinnen heran und brachte Teller, Thonbrot und Kind zur Explosion. Und während alle auf das Chaos blickten und der Geschäftsführer heranhastete, schaute Kassandra gebannt auf die Augen dieser Serviererin. Blanke Panik signalisierten diese Augen, eine gewaltige Angst und irgendwo untergründig auch einen nicht unbedeutenden Funken Hass. Und Kassandra kennt mittlerweile diese scheinbar intakten Orte fern der grossen Städte gut genug um zu wissen, dass hier die Dinge meistens genau so weit unter der unschuldigen Oberfläche verborgen liegen wie dieser Hass in den Augen der Serviererin.

 

 

2

Auch als schon eine halbe Stunde später alles geregelt war, der Boden aufgewischt, das Kind beruhigt und mit einem neuen, extragrossen Thonbrot belohnt, die Serviererin von der Polizei mitgenommen, liessen die Augen Kassandra nicht los. Alarmsignale in dem ordentlichen, ganz passablen Gesicht, in dem allerdings ein nervöses Zucken hing. Nicht unordentlich im übrigen die ganze Erscheinung, zwar bereits über die besten Jahre hinaus, aber dennoch mit einer gewissen Ausstrahlung. Jemand, der sich nicht gehen lässt, dachte Kassandra, jemand, der noch immer sorgfältig auf sein Äusseres achtet, als ob sie noch immer hoffen würde, dass das Leben nochmals etwas für sie bereithält. Warum ist sich Kassandra so sicher, dass die Frau alleine lebt und dass sie schon einiges an Erfahrung und Vergangenheit hat? Und warum könnte sie beschwören, dass sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat?

 

Eben weil Kassandra unverbesserlich ist, was ihre Ahnungen betrifft, beschloss sie gegen drei Uhr, sich nach der Frau zu erkundigen und zu diesem Zweck ihre Bekanntschaft mit dem Grossen Chef, wie sie ihn nennt, mit dem Herrn Polizeikommandanten Sutter zu erneuern. Ich bring ihm auch einen Gruss von dir mit, versicherte sie Katerchen, der schnurrend wissen wollte, wohin es Kassandra zog. Katerchen ist sehr einverstanden. Schliesslich beruht die Bekanntschaft mit Sutter auf dem Kontakt von Katerchen zu dessen langhaariger Katzenschönheit, die dem Beamten einen Wurf herrlicher Katzengeschöpfe bescherte, kaum dass Kassandra in den Ort gezügelt war.

 

Sutter knurrte. Was zum Teufel sie sich für dieses Weib interessiere. Eine, die am hellen Vormittag durchdrehe und die irgendwelche abstrusen Geschichten erzähle, eine für die Spinnwinde! Die könne einem den ganzen Tag versauen, wo man doch ohnehin nichts zu lachen habe und es werde ja sowieso immer schlimmer in dem verdammten Land, wenn nun auch hier die Politiker anfangen würden, sich die Köpfe einzuschlagen. Kassandra nickte brav zu den Ergüssen. Was denn die Frau zu erzählen gehabt habe, wollte sie schliesslich wissen. "Hä ja", pfurrte der andere auf, "Ammenmärchen halt, eben gerade zu der verfluchten Politikergeschichte! Da erfindet sich ja sowieso jede Frau Bünzli, die zuviele billige Krimis liest, ihre eigene Story dazu!"

 

Die Politikergeschichte: Kassandra bröselte sich zusammen, was sie aus der Presse erfahren hat. Da ist einer angefahren worden, ein Velofahrer, vor zwei Tagen, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. War nicht unbekannt, der auf dem Velo, Jeremias Schlatter, war immer mal wieder die Rede von ihm, bei Anlässen, wenn irgendwas Grosses von Stapel lief und neuestens eben auch in der Politik. Und nun hiess es, einer der Altgedienten habe ihn abgeschossen, habe ihn aus dem Weg räumen wollen, absichtlich mit dem Auto angefahren. "Wo ist der Unfall nun auch schon wieder geschehen?" fragte Kassandra nach. "Unfall?" Sutter verdrehte die Augen, "wenn es wenigstens ein Unfall gewesen wäre!" Aber es sehe ganz danach aus, als habe der Alte den Jungen gezielt abgeschossen, als der mit seinem Velo unterwegs gewesen sei. Der Untersuchungsbericht zum Auto müsse jeden Moment eintreffen. Und er sei sich sicher! Obwohl der Alte irgendwas von Parkschaden fabuliere, auch so Geschichten, die sich jeder erfinde! Aber man habe schliesslich rote Lackteilchen gefunden am Velo und dem seine Karre sei auch rot lackiert. Obendrein habe er noch am Morgen danach 0,8 Promille gehabt! "Wo", fragte Kassandra nochmals, da trat ein junger Beamter ein, unsicher, ein Papierbündel in der Hand.

 

Sutter knurrte nur kurz: "Gib her!", riss die Papiere an sich und überflog ein paar Zeilen, dann warf er die Blätter auf den Tisch. "Haben wir die Sauerei!" Kassandra schaute die Beamten fragend an und es ist der Junge, der sich schliesslich zu einem Satz herabliess: "Es ist tatsächlich ein Parkschaden – jedenfalls keine Spur von menschlichem Material".

3

"Wie die sich ausdrücken!" Kassandra schüttelte den Kopf, "menschliches Material hat der Kerl tatsächlich gesagt!" "Aber du kennst sie nun doch schon", wunderte sich Luzia, die auf Kassandras Anruf hin in den Zug gesprungen und hergefahren war. "Trotzdem", Kassandra schluckte den Espresso in einem Zug, " man soll nie aufhören, sich zu entrüsten!" "Und du meinst also," hängte Luzia an die vorherige Unterhaltung an, "du meinst also, dass diese Thonbrotgeschichte etwas mit dem Politikerstreit zu tun hat?"

 

Kassandra holte eine Plastiktüte hervor. "Ich meine nie etwas," gab sie zurück, "ich halte nur die Sinne wach und versuche, die Menschen zu verstehen. Warum also schlägt an einem Vormittag um elf eine bis dahin völlig unbescholtene Serviererin, die weder einen besonders schlechten noch einen besonders guten Tag hat, einem Kind, das sie nicht kennt und das sie nicht einmal bedient hat – denn bedient wurde das Kind von ihrer Arbeitskollegin – warum also schlägt sie ihm den Teller mit einem Thonbrot aus der Hand genau in dem Augenblick, als das Kind den ersten Bissen essen will?" Luzia zuckte die Schultern: "Gibt es immer wieder, dass Menschen plötzlich austicken!" "Und der Velofahrer ist hier, direkt vor dem Bahnhof angefahren worden" sagte Kassandra und schob die Tüte über den Tisch. "Kannst du dir das nicht mal etwas genauer anschauen?"

 

Luzia linste in die Tüte: Ein undefinierbarer, bräunlicher Brei. "Die Reste des Thon-brotes – jedenfalls meint die Arbeitskollegin unserer Täterin, es müsse das Brötchen sein. Steckte bereits im Abfallsack. Zwar versteht Sutters Team sein Handwerk zweifellos, aber man sieht daraus wieder mal, dass Handwerk allein nicht reicht." "Du meinst – " Luzia starrte auf den zermantschten Brei, "du meinst, in dem Brötchen sei – " "Die Serviererin hat der Polizei irgendwas von einem Kunden erzählt, der immer um elf ein Thonbrot essen komme und auf den sie offenbar nicht so gut zu sprechen ist. Ziemlich wirr, sagt der Grosse Chef. Du kannst sowas doch noch?"

 

Luzia, die gelernte Biolaborantin, nickte. "Ich schau mal bei Sven vorbei. Noch heute?" "Wenns irgendwie geht!" Kassandra stand auf. "Und ich, ich schau mal in der sogenannten Spinnwinde vorbei!"

 

 

4

"Die Frau Meier?" fragte das junge Ding hinterm Schalterglas, auf dem in mattweissen Buchstaben 'Psychiatrische Notaufnahme' stand. Auch noch Meier! Normaler geht’s nicht. Hatte Sutter mit seiner 'Frau Bünzli' etwa darauf angespielt? "Sind Sie verwandt?" fragte das Mädchen. Kassandra nickte: "Sie ist meine Gotte." "Oh", die andere wimperte mit den blaubemalten Augendeckeln, "das tut mir leid." Der Tonfall sprach aber mehr von Gleichgültigkeit. "Es ist schon jemand hinten," sagte sie dann, "ihr Bruder."

 

Ein Lämpchen begann in Kassandras Denken zu blinken. "Ihr Bruder?" fragte sie. Die andere nickte: "Obwohl, unter uns gesagt, sie gleichen sich überhaupt nicht." Sie schob Kassandra einen Zettel hin: "Bitte tragen sie sich hier ein", flötete sie. "Hat ihr Bruder das auch getan?" "Natürlich, hier müssen sich alle Besuchenden eintragen, Vorsichtsmassnahme, verstehen Sie". Kassandra verstand ganz und gar nicht. Die andere schob einen Zettel ans Glas: Romeo Meier, las Kassandra. Offensichtlich frei erfunden. Das konnte sie auch: Julia Meier, kritzelte sie auf den Zettel. "Unsere Familie liebte Shakespeare", sagte sie, als sie den skeptischen Blick des Fräuleins bemerkte und wandte sich gegen den Korridor. "A hundertelf" rief ihr die Schalterstimme hinterher.

 

Gerade als Kassandra auf der Höhe der Türe A110 angekommen war, öffnete sich die nächste Türe und ein geschniegelter Bursche erschien, blickte sich hastig um, fixierte Kassandra einen Augenblick lang unangenehm und eilte dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Schwarze, nach hinten gegeelte Haare, ein winziges Schnauzbärtchen und stechend scharfe Augen, gut, zu gut gekleidet mit einem modischen Tüchlein im Hemdausschnitt, das war alles, was Kassandra an Eindrücken erhaschen konnte. Sie öffnete ihrerseits die Türe zu A 111.

 

"Einen Notarzt?" das Mädchen hinter dem Schalter starrte Kassandra aus schreckgeweiteten Augen an, als wäre hier nicht der Empfangsschalter einer Klinik sondern das Steuerbüro oder die Einwohnerkontrolle, "aber weshalb..." "Schnell," drängte Kassandra, "Frau Meier ist zusammengebrochen!" Sie eilte den Korridor zurück, "im A hundertelf!" rief sie über die Schulter zurück.

 

"Seltsam, seltsam," sagte der Weissgekittelte und musterte Kassandra, "und Sie sind also ihre Nichte?" "Das tut jetzt nichts zur Sache," wich Kassandra aus, "als ich fast hier bei der Türe war, kam ein Mann hier raus, der es sehr eilig hatte – gibt es hinten einen Ausgang?" Der Weisskittel schwankte immer noch in seinem Vertrauen. "Na ja," sagte er, "eigentlich nicht. Es gibt nur die Verbindungstüre zum Personaltrakt und die ist normalerweise nur mit einem Batch zu öffnen." "Normalerweise?" fragte Kassandra. "Tja", sagte der Arzt und entschloss sich nun doch zum Vertrauen, "als ich jetzt hierher geeilt bin, war die Türe offen – aufgewürgt. Muss ziemliche Gewalt angewendet worden sein!" "Und was ist mit ihr?" fragte Kassandra und deutete auf die zusammengesunkene Gestalt auf dem Bett, das neben einer spitalweissen Kommode das einzige Möbelstück im Zimmer war.

 

Zwei Assistentinnen machten sich mit medizinischem Gerät zu schaffen. Der Arzt zuckte die Schultern: "Ganz atypisch", sagte er, "eigentlich hätte sie gleich wieder entlassen werden können. Alle Tests zeigten normale Resultate, keine Anzeichen von Verwirrung oder ähnlichem. Auch kein Nervenzusammenbruch. Weshalb das hier – " Eine der Assistentinnen winkt ihm. Der Arzt beugte sich über den Arm der Patientin und schaute dann zu Kassandra hin. "Haben Sie das getan?" fragte er in plötzlich eisigem Ton und er deutete auf die Einstichstelle in der Armbeuge.

 

"Ich glaube", sagte Kassandra, "es ist Zeit, dass Sie die Polizei anrufen. Sagen Sie dem Chef, Kassandra Schwarz sei hier. Er wird zwar nicht begeistert sein, aber wenigstens wird er dann gleich selbst auftauchen!" Genau in diesem Moment bäumte sich die Frau unerwartet auf, sie begann zu keuchen und zu stammeln. 'Tschingg", sagte sie, immer und immer wieder, 'Tschingg' – und plötzlich wurde es Kassandra bewusst, wie ihr der Mann aus dem Zimmer vorgekommen war: Wie ein Italiener – oder eben ein 'Tschingg', wie man vor allem hier auf dem Lande die italienischen Fremdarbeiter seinerzeit bezeichnet hatte.

 

 

5

"Also", knurrte Sutter, "du behauptest, es sei einer der aussah wie ein Italiener aus dem Zimmer gekommen und schleunigst verduftet, als er dich sah?" Kassandra nickte. "Und die hier redet auch von einem Italiener?" Wie zur Bestätigung fuhr die Frau auf dem Bett plötzlich hoch: "Tschingg! Tschingg!" schluchzte sie. Blonde Haare, die vor Schweiss strähnig nass waren, ein verzerrtes Gesicht, das trotz allem immer noch gut proportioniert war, eine deutliche Brust hob und senkte sich panisch. Wirklich, wenn sie sich ein wenig pflegen würde, sähe sie nicht wie eine fünfzigjährige Verhärmte aus. "Immer diese Weiber, die zuviele Krimis – " der Polizist hielt inne, als er Kassandras Blick bemerkte. "Ist ja gut," sagte er hastig, "aber gerade glaubwürdig ist das nicht, findest du nicht auch? Der grosse Unbekannte – ha, ha. Und dann noch ein Italiener!" "Es muss ein starkes Haluzinogen sein, das man ihr gespritzt hat", mischte sich der Arzt ein und schob sich demonstrativ neben den Kommandanten. "Und Sie wissen nichts davon?" Kassandra entging der aggressive Unterton der Frage nicht und sie schaute dem andern gerade in die Augen. "Sie tun ihren Job und der hier," eine Kinnbewegung zum Polizisten hin, "der soll den seinen tun!" "Ich habe noch jedesmal – "fuhr dieser auf. "Ich weiss," unterbrach ihn Kassandra, "du hast noch jedesmal am Ende zugeben müssen, dass ich recht hatte. Ist es nicht so?" Der andere brummelte etwas.

 

"Mann, so denk doch mal nach!" fuhr Kassandra fort, "nach einem Streit wird ein Mann auf dem Fahrrad gegen zwei Uhr nachts direkt vor dem Bahnhofscafé angefahren und schwer verletzt. Ein Verdächtiger aus dem Umfeld des Verletzten wird verhaftet, weil der vordere Kotflügel seines Autos beschädigt ist und dieses rot ist wie die Lackteilchen, die man am Fahrrad findet. Kaum wird das bekannt, schlägt in besagtem Bahnhofscafé eine Serviererin vormittags um elf in panischer Angst einem Kind ein Thonbrötchen aus der Hand. Die Alibi-Geschichte des Tatverdächtigen vom Parkschaden erweist sich als wahr. Die Serviererin wird in die psychiatrische Notaufnahme eingeliefert, wo man keine Anzeichen für Verwirrung, Krankheit oder Nervenschwäche findet. Das angebliche Gottenmädchen der Serviererin kommt zufällig in jenem Moment zum Zimmer der Serviererin, als dort ein italienischer Typ herauskommt, ebenso angeblich ihr Bruder, und durch den Hinterausgang abhaut. Kaum ist er weg, bricht die Serviererin zusammen und faselt immer wieder etwas von einem 'Tschingg', was, wie ihr vielleicht noch wisst, in den 70igern die hier übliche Bezeichung für die italienischen Gastarbeiter war. Der alarmierte Arzt findet am Arm der Serviererin die Spuren eines Einstichs und er vermutet, dass ihr ein starkes Haluzinogen verarbreicht wurde. Hätte man das nicht sofort bemerkt, wäre wahrscheinlich der Tod oder zumindest eine dauernde Schädigung die Folge gewesen. Und – "Ein Telefonklingeln unterbrach den Vortrag.

 

Kassandra zog ihr Mobilteil heraus: "Luzia? – Ja – doch – also –nur ruhig! Super, ich gebs grad weiter! Danke! Ja – ja – gut, um fünf im Bahnhofscafé! Genau" Sie wandte sich dem Polizisten zu, der sich eben halblaut mit dem Arzt zu unterhalten begann. "Und ausserdem," sagte Kassandra betont langsam, "und ausserdem hat meine Freundin, die gelernte Laborantin ist, in den Überresten des besagten Thonbrotes, das von der Polizei im Abfallsack des Cafés entsorgt wurde, eine heftige Dosis Arsen gefunden."

 

 

6

"Und Sie sind sich ganz sicher?" fragte der Polizeikommandant und kippte sich ein weiteres Kübelchen Crème in seine milchige Kaffeebrühe. Kassandra schüttelte sich. Dass der das trinken konnte! Der Espresso war hier nämlich stark und dunkel.

 

Luzia war mit ziemlich bleichem Gesicht aus dem Zug gestiegen und hatte den Schnaps, den ihr Kassandra neben den kleinen Schwarzen gestellt hatte, sofort und ohne Bedenken in einem Zug gekippt. Kassandra schob die Tüte dem Polizisten zur Tasse hin: "Es hat noch davon, kannst ja dein Labor auch noch bemühen, wenn du's nicht glaubst!" Der andere zuckte die Schulter: "Hä ja, damit wirs dann amtlich haben, falls – aber sag mal, was soll denn das Ganze hier mit dem andern Fall zu tun haben?" Kassandra lächelte: "Vielleicht gar nichts – und vielleicht alles? Wie wärs, wenn man Schritt für Schritt vorginge?" Sutter wurde ärgerlich: "Tun wir immer – also, wie meinst du das denn?" "Nun, mich zum Beispiel würde interessieren, wer denn dieser Kunde war, von dem die Serviererin gefaselt hat, was es mit dem "Tschingg" auf sich hat, warum in beiden Fällen diese Kneipe hier Schauplatz ist oder zumindest gleich beim Schauplatz liegt, ist das Zufall oder vielleicht doch mehr? Ausserdem würde mich das Leben der Serviererin ein wenig genauer interessieren – und darum kümmern wir uns jetzt. Vielleicht bist du ja so freundlich, und nimmst dich der andern Fragen an?"

 

Der Polizist starrte sie einen Moment lang bullig an, packte dann die Tasse, kippte das Gebräu in einem Zug und stand auf. "Hätten sich bloss diese verdammten Katzen nie getroffen – nichts als Ärger hab ich seither!" "Ich werds Katerchen ausrichten", sagte Kassandra, aber der andere stapfte schon über den Vorplatz davon, auf dem noch immer die Kreidezeichen die Lage des Angefahrenen markierten.

 

Die zweite Serviererin war skeptisch und sie war nur schwer dazu zu bringen, mitzukommen."Ich weiss ja fast nichts von ihr", wich sie aus und sie müsse dringend einkaufen und der Wäscheplan – und ob sie wüssten, wie das sei, alleinstehend mit einem solchen Job... "Es ist ja gleich um die Ecke", untertrieb Kassandra ein wenig. Missmutig tappte die Angestellte schliesslich mit, aber schon an der ersten Strassenecke wurde sie ungeduldig: "Sie sagten doch – " "Wir sind gleich da," beruhigte Kassandra, aber sie war doch froh, dass wirklich kurz darauf das grosse Tor der alten Kaserne auftauchte.

 

"Hier wohnen Sie?" fragte die Frau überrascht und zögerte. Kassandra schob sie sanft weiter: "Es ist gar nicht mehr militärisch," sagte sie, "Sie werdens gleich sehen!" Als man dann oben in Kassandras Dachwohnung war und über die Giebel der Altstadt hinweg zum Fluss und weiter bis hinüber zur fernen Hügelkette sah, welche das breite Flusstal begrenzte, da taute sie auf. Und als dann noch Katerchen um ihre Beine strich und schnurrend nach Aufmerksamkeit gurrte, da war es vollends um sie geschehen. "Sie haben auch Katzen?" sagte sie mit aufglühenden Augen. "Eine," sagte Kassandra, "eine genügt vollkommen! Katerchen hat die Intelligenz von fünf normalen Katzen!"

 

Und über das Gespräch zur Intelligenz der Katzen fand sich wie von selbst der Faden zur Kollegin. "Leicht", sagte sie, "leicht hat sie's ja beileibe nicht! Nachdem der Gauner abgehauen ist – " "Der Gauner?" Kassandra zog die Brauen hoch. "Na ja," sagte Elvira, man war zu den Vornamen übergegangen, " na ja, so haben wir ihm gesagt, der Chef und ich. Er hat sie nur ausgenutzt, hockte zu Hause rum und jammerte in einem fort. Schmerzen habe er und sozusagen Dauermigräne. Wobei, unter uns gesagt, die Migräneanfälle immer direkt mit Arbeit zu tun hatten. Sobald welche in Sicht war, stellte sich zuverlässig die fürchterliche Migräne ein!" "Und" fragte Kassandra," hat sie ihn rausgeschmissen?"

 

Elvira schüttelte den Kopf. Dünne schwarze Haafäden flossen an ihrem Schädel herunter und auch sonst war ihr Pferdegesicht nicht gerade schön zu nennen. Aber sie hatte ausdrucksvolle tiefschwarze Augen und ihre Hände waren von einer imponierenden Beredsamkeit. In einer verzweifelten Geste hob sie sie jetzt in die Höhe: "Rausgeschmissen? Eben nicht! Wir habens ihr immer wieder gesagt, der Wülser und ich – Wülser, das ist der Chef. Ein guter Kerl, steht immer hinter uns, wenn der Konzern mal wieder eine Glanzidee hat!" Kassandra lenkte sachte den Erzählstrom. Von Wäsche oder Einkauf war jetzt nicht mehr die Rede, und als Luzia mit Kaffee und Kuchen aus der Küche kam, griff Elvira auf eine Art zu, die Bände sprach: Oft wurde sie bestimmt nicht zu einem solchen Tratsch eingeladen.

 

Erst nach fast zwei Stunden schrak die Spanierin - sie war nämlich vor Jahren einem Mann in dieses Land gefolgt und geblieben, obwohl er sie sogleich hatte sitzen lassen – auf und meinte, das sie nun gehen müsse. Und obwohl Kassandra sie zum Essen einladen wollte, war sie nicht zum Bleiben zu bewegen. Aber ein anderes Mal, das war deutlich zu sehen, ein anderes Mal würde sie bestimmt kommen. Und Kassandra nahm sich vor, das gleich nach Abschluss dieses Falles zu tun.

 

 

7

Denn auf jeden Fall hatte sie ihnen weitergeholfen, darüber waren sich Kassandra und Luzia sogleich einig. Dass die Aktion mit dem Thonbrot so gar nicht zu Marie – der Frau Meier also – gepasst hatte. Dass sie schon seit zwei Tagen ganz ungewohnt fahrig gewesen sei. Seit Mittwoch also? Die Spanierin überlegt," ja," sagt sie dann, "seit Mittwoch, genau." Sie habe, sagt sie dann nachdenklich, sie habe sich aber auch unüblich stark für die Politikergeschichte interessiert, das sei ihr noch aufgefallen. Irgendwie erregt habe sie gewirkt und dabei habe sie sich nie auch nur im Entferntesten um diese Dinge gekümmert. Sie habe zuerst gedacht, sie hätte den Jungen gekannt, der angefahren worden sei, aber sie sei mittlerweile sicher, dass das nicht sein könne.

 

Kassandra will nun ganz genau wissen, wie die Zeit vor dem Thonbrotunfall, sie sagt wirklich "Unfall", im einzelnen abgelaufen sei und die Spanierin bemüht sich sehr. Normal sei die Marie wieder gewesen an jenem Morgen, fast unüblich unbeschwert. Es sei ihr aufgefallen, weil sie alle belegten Brote alleine gemacht habe, das sei sonst nicht üblich, sie würden einander immer helfen dabei. Aber Marie habe fast darauf bestanden und sie, Elvira, habe daraufhin draussen schon mal die Vitrine geputzt. Ja, sagt sie, richtig aufgekratzt sei Marie gewesen. Sie habe sogar erzählt, dass der Gauner, eben ihr Verflossener, nun wohl endgültig weg sei, seit Tagen sei er nicht mehr gekommen und sie würde nun seit dem Wochenende auch den Schlüssel nachts nicht mehr unter die Fussmatte legen.

 

"Sie hat den Schlüssel am Abend unter die Matte gelegt?" Elvira nickt. Sie habe ihr gesagt, dass sie doch damit aufhören solle, das sei doch keine Art und er würde auf diese Art mal noch verloren gehen, weil sie ihn nämlich jeweils lose in der Handtasche mitgetragen habe. Zwei, drei Mal habe Marie deswegen nochmal zurück ins Café gehen müssen, weil sie ihn dort rausgelegt und dann vergessen habe, wenn sie im Täschen etwas gesucht habe. Wann denn das jeweils gewesen sei, fragte Kassandra. Na ja, die Spanierin überlegt, genau kann ichs nicht mehr sagen, manchmal, wenn wir noch zusammen ein Glas getrunken haben, halt in all den Wochen vorher, als Marie immer noch geglaubt habe, dass der andere wieder zurückkomme. Dabei hätte sie doch Chancen gehabt, es habe genug gegeben, die nur wegen ihr ins Café gekommen seien. Der Mafiosi zum Beispiel. Der Mafiosi? Elvira grinst. Sagten wir so, ein Italiener, geschniegelt wie nichts, fährt im roten Alfa vor und bringt ihr den Schmus!

 

Und am Mittwoch? hat Kassandra noch gefragt. Fahrig sei Marie gewesen, völlig von der Rolle, sie habe sie noch nie so erlebt. Eben, wahrscheinlich, weil der Gauner endgültig weg sei, irgendwas müsse sich entschieden haben am Wochenende. Komisch sei nur, dass die Reaktion erst am Mittwoch – Eben, komisch, sagt Kassandra, aber vielleicht war es ja auch was anderes? Vielleicht hat sie sich ja auch auf den Italiener gefreut? Die Augen der Spanierin glühen auf: Gefreut! Von wegen! Angeschnauzt hat sie ihn als er ihr wieder seine Komplimente säuselte, ihm sein Thonbrot hingeknallt und ihn gehänselt wegen dem Fahrrad.

 

"Moment", sagt Kassandra, "jetzt mal schön der Reihe nach. Er kam also immer um elf vorbei, der Italiener?" "Pünktlich," sagt die Spanierin, "pünktlich um elf und immer ein Thonbrot und einen Primitivo! Um elf Uhr vormittags schon einen Primitivo!" "Und was war das mit dem Fahrrad?" "Ach ja," Elvira nickt, er sei doch immer mit dem Alfa vorgefahren, auch am Dienstag noch, sie erinnere sich genau, weil er Marie wieder habe überreden wollen, von wegen weichen Ledersitzen und so. Und dann plötzlich an jenem Mittwoch mit nem Bike, brandneu, darum auch habe ihn Marie drangenommen. Ob er sein Fett wegradeln wolle und all sowas. Dabei hätte sie ja Chancen gehabt und der Kerl habe Geld, das wisse man, genug Geld!

 

"Ein roter Alpha also", brummte Kassandra, als die Spanierin gegangen war, "sieh mal an, und ein Thonbrot um elf." Luzia schwieg und braute nochmals eine Runde Espresso mit dem italienischen Maschinchen. Vor dem Fenster begann die Dämmerung die Farben aufzusaugen. Zuerst die braunen Dächer, dann das Grün der Bäume und gerade, als auch die grelleren Farben sich in Grau zu verwandeln begannen, leuchtete unvermittelt das ganze Bild in einem kitschigen Rosa auf, das selbst aus der hässlichen Vorstadtindustrie eine Traumfabrik-Kullisse machte. Die Sonne zündete wie ein plötzlich aufgeblendeter Theaterscheinwerfer rot durch einen Wolkenriss und zeichnete harte Schatten in die Stadt. Ebenso unvermittelt erlosch das Licht wieder und nun war ohne Übergang alles schwarz, selbst der Himmel und erst da bemerkte Luzia, dass schwere Wolkenstaffeln den Hügelzug im Westen verschluckt hatten.

 

Nur zögerlich leuchteten erste Lichter auf. Luzia dachte an die Stadt, in der um diese Zeit bereits alles hell erleuchtet sein würde. Mit einem Mal verstand sie, was Kassandra daran reizen mochte: Herauszufinden, was unter dieser aufgesetzten Ruhe und Beschaulichkeit lauerte. Hier draussen, sagte Kassandra, hier draussen beginnst du erst das seltsame Wesen Mensch zu verstehen. Das Kaffee-Maschinchen zischte.

 

Plötzlich stand Kassandra auf: "Also, schaun wir, was der Italiener mit dem Jungen zu tun hat!" "Aber der Espresso – " begann Luzia, da nahm ihr Kassandra das Tässchen aus der Hand und stürzte die kochend heisse Brühe in einem Zug hinunter. "Wunderbar", sagte sie, "danke!" Und schon stand sie ungeduldig draussen an der Treppe. "Kommst Du?"

 

 

8

"Zum Tageblatt!" hatte Kassandra erwidert, als Luzia nach dem Ziel fragte. Das Tageblatt, so nannten sie unter sich eine ehemalige Hausangestellte namens Miriam Bohnenblust, die in einen früheren Fall als Mitschuldige verwickelt gewesen war, sich dann aber mit Kassandras Hilfe auffing und die ihnen seither immer mal wieder behilflich war. Sie hatte ein umfassendes Wissen über die Verhältnisse in der gesamten Region. 'Wenn du wissen willst, wer mit wem und wieso und wann und überhaupt – dann geh zur Bohnenblust, die weiss einfach alles!' sagte Kassandra zu Luzia.

 

Der Empfang war wie immer herzlich, auch wenn sich Miriam gerade für den Ausgang fertig machte. "Nur eine Minute", sagte Kassandra, aber davon wollte Miriam nun gar nichts wissen. Sie holte sofort die Gläser aus dem Schrank und eh sie sichs versahen, sassen sie bei einm Seeländer Weissen, der sich durchaus trinken liess. "Alles kann warten wenn Kassandra mich braucht!" sagte die gewesene Haushälterin und hob das Glas. "Ein Rendez-vous?" fragte Kassandra ungeniert und Miriam grinste. "Aber so dumm wie damals," sagte sie dann ernst, "so dumm werde ich niemals mehr sein!" Damit spielte sie auf jene Ereignisse an, in deren Verlauf sie sich begegnet waren. 'Damals' hatte sie sich unsterblich in einen Hochstapler, Phantasten und Kunstbetrüger verliebt und ihm erst seine kriminellen Umtriebe möglich gemacht.

 

"Ich weiss," sagte Kassandra und kam sogleich auf den Italiener zu sprechen. "Ach der," sagte Miriam aufhorchend, "hier nennt man ihn auch den 'Tschingg', bisschen Hans-Dampf-in-allen-Gassen und hinter jedem Frauenrock her. Den triffst du immer und überall an!" Dann grinste sie wieder: "Bloss um mich macht er einen Bogen, seit ich ihm mal handgreiflich zu verstehen gegeben hab, dass ich nicht auf Italienisch stehe." Tschingg! Kassandra horchte sofort auf. Und was er denn für einen Bezug zu dem Jungen auf dem Fahrrad gehabt haben könnte, fragte Kassandra. Wie sie denn darauf komme, erwiderte Miriam ernst, ob denn nicht erwiesen sie, dass der andere, der Schurter, der Politiker, der Schuft sei? "Hä ja", meinte Kassandra, "der schlaue Herr Polizeichef hat da einen Bock geschossen – nur das Fahren im angetrunkenen Zustand ist jetzt nachgewiesen, aber den Jungen auf dem Fahrrad hat er definitiv nicht abgeschossen!"

 

Abwechselnd erzählten sie ihr nun die Thonbrotsache und Miriam betrachtete sie nachdenklich: "Du denkst also – " "Ich selbst denke nie", sagte Kassandra, "ich versuche nur, dem Denken der Figuren im Spiel auf die Spur zu kommen." "Augenblick", sagte Miriam versonnen und trank schweigend kleine Schlucke. Kassandra konnte förmlich sehen, wie in ihrem Kopf die ganze Gegend mit allen Gestalten, allen offenen und versteckten Fäden, den Beziehungen, den Emotionen entstand.

 

"Also", sagte die ehemalige Haushälterin, "hier haben wirs: Fussball." "Was zum Teufel meinst du denn jetzt damit?" fragte Kassandra. "Wie alle Italiener", sagte Miriam, " wie fast alle Italiener ist auch der Tschingg fussballverrückt. Und natürlich redet er auch hier in unserem örtlichen Club ein grosses Wort mit. Er war in der Juniorenabteilung drin, medizinisch sagt man, er ist ja auch beruflich dort tätig, bei der Ambulanz, weißt du." Kassandra nickt versonnen. Natürlich, bei der Sanität! Aber es war dann da offenbar mehr dabei als rein medizinische Betreuung, hab ich läuten hören. Aber davon weiss ich nichts genaues. Er hat jedenfalls aufhören müssen, das ist sicher. Man habe Beweise zugespielt erhalten, hiess es und dabei hab ich auch gehört, dass - " "Schlatter," sagte Luzia unerwartet, "Jeremias Schlatter, der auf dem Velo!" Und Kassandra starrte sie verblüfft an: "Du weißt davon?" Luzia errötete ein wenig: "Den Zusammenhang kannte ich natürlich nicht. Bloss aus dem Fussball halt, dort sprach man davon." "Du hast mit Fussball zu tun?" Na ja" sagte Luzia,"mein Neffe spielt bei uns bei den Junioren und da war natürlich schon davon die Rede. Und dass endlich mal einer Klartext geredet hat, man war froh bei uns." "Und das war der junge Schlatter?"

 

Miriam mischte sich wieder ein:"Er war halt dort auch aktiv, hat für die Events gesorgt und dass immer mal wieder was los war drumherum." "Na also," sagte Kassandra, "wollen wir mal den Grossen Chef aufklären, vielleicht, dass ers ja schafft, wenn wir ihm die nötigen Zutaten auf dem Tablett servieren!"

 

 

9

Schon in der Nacht war die kurze Sommererinnerung weggepustet worden. Bissig schoss ein nasser Wind um die feuchten Hausmauern und immer wieder knatterten Regenstaffeln gegen die Scheiben des Bahnhofcafés. Selbst die Ankündigungen der Züge über die Lautsprecher schienen mit erkälteter Stimme gesprochen und natürlich gaben sie nichts als Verspätungen an.

 

"Der Tschingg!" sagte die Spanierin und stellte schon den dritten Espresso vor Kassandra, obwohl in dem Lokal eigentlich Selbstbedienung war, "daran hätte ich nun doch nicht gedacht!" "Nun ja", sagte Kassandra, "manchmal sieht man von aussen alles in einem andern Licht! Sie konnten ja nicht wissen, dass Ihre Kollegin mitten in den Nacht den Schlüssel, den sie wieder einmal verlegt hat, hier in der Küche suchen geht und aus lauter Angst sich nicht getraut, Licht zu machen!" Das verstehe sie zwar schon, sagte die Serviererin, es habe ja Einbrüche gegeben in letzter Zeit und die smarten Jüngelchen vom Wachdienst seien manchmal ein bisschen übereifrig. Und im Ganzen sei die Marie halt doch noch nicht über die Geschichte mit ihrem Gauner hinweg, gerade der Schlüssel, den sie noch immer für ihn unter die Fussmatte gelegt habe statt ihn an den Schlüsselbund zu klicken, beweise das."Trotzdem", sagte Kassandra, den Verdacht, den Marie gegen den Tschingg gehegt habe, nachdem sie in der Nacht das Ereignis beobachtet habe, den hätte sie besser der Polizei mitgeteilt anstatt auf die Idee mit der Selbstjustiz mittels dem vergifteten Thonbrot zu verfallen!

 

Aber auch da wiegte Elvira ihren Kopf und die tiefen, schwarzen Augen glühten: "Unsereins," sagte sie, "unsereins hat nicht so gute Erfahrungen mit der Polizei! Und Marie war einige Male dort um ihren Alten anzuzeigen, wenn er ihr wieder mal gedroht hatte! Soll ich Ihnen mal sagen, wie sie behandelt wurde jeweils?" Kassandra winkte ab, sie wisse das schon, wahrscheinlich habe man sie nur gefragt, ob sie ihn etwa gereizt habe oder sogar, ob sie sich ihm sexuell verweigere, dann könne man ja verstehen – und solche Sachen. Das habe sie schon selbst erfahren, als sie mal zweideutige Anrufe erhalten habe. "Aber trotzdem," sagte sie, "trotzdem, die Sache mit dem vergifteten Thonbrot war doch ein unheimliches Risiko!"

 

"Eigentlich nicht", verteidigte die Serviererin ihre Kollegin, "wäre alles genau wie geplant verlaufen, wenn nicht der Chef dazwischen gefunkt hätte und Marie in den Zurüstraum gerufen hätte. Damit konnte sie nicht rechnen und dass genau in diesem Moment die Kleine bei mir ein Thonbrot bestellt und der Tschingg erst danach an der Reihe gewesen wäre! Normalerweise musste immer Marie ihm das Thonbrot reichen, das richtete er so ein, damit er ihr immer seine Avancen machen konnte, seine plumpen Anspielungen. Und ich weiss ja nicht, seit dem Mittwoch war er ohnehin nochmals anders, als ob er etwas geahnt hätte – wer weiss, vielleicht hat er ja Marie doch gesehen in jener Nacht? Man weiss ja nie hier, mit all den spiegelnden Lichtern, den Autoscheinwerfern, den Strassenlaternen, den Perronlampen. Und auch in jener Nacht hats geregnet! Vielleicht hat er ja den ganzen Rummel nach dem Unfall beobachtet, versteckt von irgendwoher und Marie gesehen, als sie hinten aus dem Materialraum flüchtete."

 

"Na ja," sagte Kassandra, "wie auch immer. Mit unserer Nachhilfe hats ja nun der Herr Polizeichef geschafft und man wird in der Presse wieder mal nachlesen können, was für eine vorzügliche Spürnase er hat!" In diesem Moment betraten zwei Beamte das Café und zögerten an das Bistrotischchen heran. "Frau Schwarz?" fragte der Jüngere, der ein bisschen wie ein Italiener aussah und musterte dabei aber eher Elvira, die sich verlegen abwandte. "Die bin ich," sagte Kassandra und erhob sich. "Hoffmann," stellte sich der zweite, im gesetzteren Alter vor, "bleiben Sie bloss sitzen, wir bringen ihnen nur etwas vom Alten vorbei. Er meinte, wir würden Sie sicher hier vorfinden, so gegen zehn Uhr." "Dumm ist er nicht", brummte Kassandra widerwillig bewundernd und hastig fügte sie ein "Nichts" hinzu, als der Beamte sie fragend ansah.

 

Dann blickte sie erstaunt auf das Couvert, das ihr der Junge hinstreckt. "Ich nehme das nicht an" sagte sie ärgerlich und Hoffmann grinste. "Hat er vorausgesagt und wir sollens notfalls mit Gewalt aushändigen!" Er schob die Hand an den Knüppel, der am Gürtel baumelte. "Mistkerl", brummte Kassandra halbärgerlich und nahm den Umschlag schliesslich. "Wir wollen ja nicht schon wieder Scherben machen hier!" "Eben", grinste er und Kassandra musste widerwillig eingestehen, dass ihr mal ausnahmsweise ein Polizist nicht unsympatisch war.

 

"Nehmen Sie nicht noch einen Kaffee?" hörte sie, über sich selbst erstaunt, ihre Stimme und schon sassen die Beiden an ihrem Tisch. Elvira liess es sich nicht nehmen, auch diesmal zu bedienen. Dass sie dabei den Jüngeren besonders aufmerksam berücksichtigte, fiel Kassandra nicht einmal auf. Sie versuchte noch immer verwirrt, ihr eigenes Benehmen einzuordnen.

 

Erst, als die Beamten nach dem dritten Kaffee gegangen waren, öffnete Kassandra, immer noch ein wenig abwesend, das Couvert. Es enthielt einen Gutschein für eine grössere Menge Katzenfutter "zu Handen Deines wunderbaren Katers", wie der Polizeichef dazugeschrieben hatte sowie eine Einladung zu einem italienischen Nachtessen für sie und Luzia, "weil wir es uns ja nun schon so gewohnt sind." "Witzkiste", brummelte sie nicht unfreundlich und fand ihren Humor wieder. "Wir gehen nur hin," sagte sie später am Telefon zu Luzia, "wir gehen nur hin, wenn die Spanierin und die Thonbrötchen-Marie auch dabei sein dürfen! – Und die beiden Beamten ebenfalls", fügte sie nach leichtem Zögern an. Und wie immer willigte der Polizeichef am Ende brummelnd ein.

 

Langenthal, Februar 2014

 

 

Kunst im Schloss

Ein Fall für Kassandra Schwarz (3)

1

Einer jener Fälle, auf die Kassandra immer wieder zu sprechen kam und der ihr sehr nahe ging, war die Geschichte einer späten und intensiven Liebe. Er hob sich insofern von den sonstigen Erlebnissen ab, als er weniger mit der Zeit, in der man lebte, weniger mit der Entwicklung der Gesellschaft hin zu immer egozentrischerem Verhalten, weniger mit der modernen Kommunikationsgesellschaft zu tun hatte, als vielmehr mit den seit jeher auftretenden menschlichen Regungen, mit dem Verlangen nach Nähe, Zärtlichkeit, Geborgenheit, das bisweilen blind macht und ins Verderben führt.

 

Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, dass Kassandra mit ihrem Wegzug aus der Stadt selbst vor solchen Regungen, vor einer solchen Wendung ihrer eigenen Geschichte geflüchtet war. Zumindest deutete die Intensität, mit der sie immer und immer wieder auf den Fall zu sprechen kam und mit der sie die Hauptbetroffene später in ihren Fällen miteinbezog, solches an. Aber deutlicher wurde sie auch gegenüber ihrer besten Freundin nicht, die immer mal wieder darüber rätselte, ohne je wirklich die Wahrheit herauszufinden.

 

Die Geschichte begann denn auch mit einem Anruf von Kassandra an diese Freundin, in dem sie Luzia zu einem Bummel in der Marktgasse der kleinen Stadt in ihrer Nähe bat. Sie habe ihr etwas Interessantes zu erzählen. Luzia wunderte sich zwar nicht mehr allzu sehr über die exzentrischen Regungen ihrer Freundin, aber diesmal war sie doch etwas erstaunt, dass Kassandra an einem normalen Donnerstagmorgen den Wunsch nach einem Einkaufsbummel in der nicht allzu monumentalen Marktgasse ihres neuen Wohnortes in der Provinz äusserte.

 

Der Vormittag war für den Monat Mai ausserordentlich heiss. Sozusagen über Nacht war der Sommer aufegplatzt, obwohl es noch gar nicht richtig Frühling gewesen war. Und sofort drückte die Hitze auch schon schwül und feucht. Luzia war nicht wirklich unglücklich darüber, das monströse Manuskript, das sie korrekturlesen musste, beiseiteschieben zu können, obwohl der Termin eigentlich drängte. Aber die Temperatur war so gar nicht danach, sich durch einen Dschungel unmöglicher Wendungen und geschraubter Ausdrücke zu kämpfen, den man am liebsten mit dem verbalen Zweihänder gelichtet und ausgedünnt hätte, was ihr der Auftraggeber jedoch untersagte. Es sei ein Stilmittel, behauptete er und war nicht weiter auf Luzias Argumente dagegen eingetreten. Selbst grosse Zitate wie jenes von Poppers "Wer's nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er's klar sagen kann" zeigten keine Wirkung. Luzia entschloss sich daher zu einer kleinen Rache durch eine weitere Verzögerung. Ausserdem hatte Kassandras Stimme so geklungen, wie sie immer klang, wenn sie auf ihren Café-Recherchen auf einen Misston im allgemeinen Gesumme der menschlichen Aktivitäten gestossen war.

 

Kassandra stand vor einem Schaufenster. Ihre rote Mähne leuchtete von weitem auffallend. Luzia blieb in einigem Abstand stehen um zu sehen, was sich ereignen würde. Aber es geschah nichts. Kassandra stand fast regungslos. Endlich stellte sich Luzia neben sie. In dem Schaufenster war Unterwäsche ausgestellt in einer Preisklasse, die sich weder sie noch Kassandra im Entferntesten leisten konnten. Es geschah immer noch nichts. Schliesslich verlor Luzia die Geduld: "Hallo Kassi!" Kassandra nickte, ohne sich ihr zuzuwenden. "Los," sagte Luzia, "erzähl schon!" "Pssst", Kassandra blieb immer noch bewegungslos stehen, "eine Hammersache, sag ich dir – aber ich glaub, ich werde beschattet!" Luzia wurde ärgerlich. Sie tue wie in einem schlechten Agentenfilm, das sei doch einfach lächerlich und für so einen Mist lasse sie sich nicht hier vor dem Fenster bei lebendigem Leibe braten. Aber Kassandra blieb ungerührt: "Und ich hatte noch immer recht! Schau mal das mickrige Bürschchen dort drüben – was glaubst du, was der macht?" Luzia grinste: "Der ist auf Aufriss, wetten wir?" Und bevor Kassandra protestieren konnte, ging sie auf den Burschen zu. Sie wechselte ein paar Worte und mit hochrotem Kopf machte sich der Junge davon.

 

"Siehst du?" Luzia lachte, "dein Spion verzieht sich schon!" "Und was hast Du ihm gesagt?" "Gefragt, ob er mit uns Unterwäsche kaufen wolle." "Und wenn er ja gesagt hätte?" "Hat er auch - wir aber nicht mit ihm, hab ich gesagt und er solle Leine ziehen, sonst würde ich ihm jenen Burschen dort auf den Pelz hetzen! " Luzia deutete dabei auf einen Sicherheitstypen in Springerstiefeln, der an der Ecke stand und ausdauernd zu ihnen hin starrte. "Der schaut auch schon lange her – wir fallen auf! Komm, wir spielen Shopping!" und sie zog Luzia von der imponierend teuren Unterwäsche fort.

 

2

An der sogannten Einkaufsstrasse lagen ein knappes Dutzend Läden. Mehrmals dieses Dutzend rauf und wieder runter dauerte es, bis Kassandra ihre Geschichte losgeworden war. Ob sie schon mal etwas von Giacomo Albertini gehört habe, wollte sie zuerst von Luzia wissen. Ein Bildhauer, vielmehr ein Statuengiesser eigentlich. Seine Statuen seien von wundersam stimmigen Proportionen, alles Guss, immer wieder andere Legierungen, je nachdem, was er für Lichtwirkungen erzielen wolle. Und jetzt tauchten seit ein paar Monaten immer wieder Fälschungen auf, ob sie nicht davon gelesen habe? Als eigenständige Kreationen wären sie gar nicht so schlecht, aber es seien halt einfach nachgemachte Albertinis und als Imitationen auch schnell erkennbar. Trotzdem gebe es immer wieder Neureiche, die keine Ahnung hätten und die Imitationen erwerben würden, als echte Albertinis natürlich, zum entsprechenden Preis. "Und gestern, "sagte Kassandra, als sie eben zum dritten Mal beim Schuhladen kehrt machten und sie senkte die Stimme, "gestern hab ich im Stadtcafé eine Frau beobachtet, die einem Typen eben so eine Figur zeigte! Ich hab sie nur ein paar Sekunden lang gesehen, die Figur, aber ich bin absolut sicher! Ich bin daraufhin auf die Toillette gegangen und verhedderte mich in einen Stuhl genau neben jenem Tischchen und dabei hab ich dann gehört, wie die Frau, eine absolute Vogelscheuche übrigens und auch so gekleidet, in schreienden Farben und drei Nummern zu gross, die Frau also nannte ihm eine Adresse. Und weißt du, was für eine?" Luzia war bereits von der Geschichte gefangen und wartete. Kassandras Augen leuchteten auf: "Die Adresse des Schlösschens!"

 

Luzia blieb aprut stehen: Das Schlösschen? So nannte man eine riesige Villa mit mehreren Flügeln, Türmchen und Nebenbauten, die ziemlich ausserhalb der Stadt in einem umfangreichen Park verborgen lag. Erst vor kurzem war es von einem Herrn Stengele gekauft worden, von dem allerlei gemunkelt wurde. Zum Beispiel, dass seine Frau eine ehemalige Miss Universum sei und drei Kinder habe, keines von ihm. Und dass er keinesfalls wie eine Stange geformt sei sondern eher wie eine Kugel. Und ausserdem habe er eine Menge Geld gemacht mit irgendwelchen Medizinalgeräten. Und in dem Park, hiess es weiter, hause eine riesige, schwarze Dogge, die niemanden auch nur einen Meter in den Park hineinlasse. Luzia schauderte schon bei dem Gedanken, dass sie nun in einigen Minuten vielleicht bereits von einer riesigen Dogge verfolgt durch einen wildfremden Park hetzen würde. Denn sie zweifelte keine Minute, dass Kassandra einen Besuch im Schlösschen vorhatte. Trotzdem spielte sie mit einem letzten Hoffnungsschimmer die Arglose: "Na schön – und weshalb hast du mich denn nun auf diesen wundervollen Einkaufsbummel herbefohlen?" Kassandra musterte ihre Freundin kurz und durchschaute sie natürlich auch gleich. "Das weißt du ebenso gut wie ich! Aber zuerst genehmigen wir uns im Stadtcafé einen scharfen Espresso rabenschwarz – oder auch zwei oder drei, das können wir wohl brauchen! Und dann gehen wir vor wie Dschingis Khan: Wir stürmen die Festung im Frontalangriff!"

 

3

Das Schlösschen lag etwas höher über der Stadt auf einem Hügel und als Kassandra und Luzia ihre Bikes vor dem grossen Gittertor abstellten, waren sie schweissgebadet. Sie glaube ja nicht, keuchte Luzia mit Blick auf die imposante Gittermauer, hinter der sich Baumriesen und Gebüschhaufen zu einem grünen Dschungel aufbäumten, dass so ein Geldsack es nötig habe, irgendwelche Statuen zu fälschen. Allerdings kannte sie dieses Gefühl von allen ihren bisherigen Ermittlungen mit Kassandra her: Zu Beginn schienen es immer Hirngespinste zu sein, denen Kassandra nachjagte. Aber jedesmal hatten sich die Gespinste unheimlich schnell zu Gewissheiten und oft auch realen Gefahren verdichtet, das musste sie zugeben. Diesmal erschien ihr die Sache jedoch wirklich äusserst zweifelhaft. Ausserdem gelobte sie sich, wieder seriöser ihr Fitnessstudio heimzusuchen. Seit Kassandra aus der Stadt weggezogen war, entwickelte sich ihre körperliche Leistungsfähigkeit geradezu schwindelerregend. Auch jetzt wieder schien sie die Steigung gar nicht gespürt zu haben und ihre Haarmähne sah aus, als sei sie frisch geföhnt.

 

Obwohl es bereits gegen vier Uhr nachmittags zuging, war es nämlich immer noch schwül und feuchtheiss wie in einer Sauna. Luzia lechzte so sehr nach Schatten, dass sie ohne zu überlegen die Klinke des grossen Gittertores drückte. Das Tor schwang geräuschlos auf. Luzia schreckte zurück, aber Kassandra trat ohne zu Zögern in den Park. "Umso besser", sagte sie, "ich glaube nicht, dass du für eine Kletterpartie noch frisch genug gewesen wärst." Und obwohl es Luzia wurmte, musste sie Kassandra recht geben. Sie folgte ihr etwas zögerlich, die grosse Dogge drängte sich gebieterisch in ihr Denken.

 

Obwohl die Bäume die Sonne verdeckten, war die Luft im Park nicht eine Spur frischer und Luzia spürte den Schweiss in Rinnsalen über den Rücken fliessen. Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, dass die Gedanken an die reissenden Mordhunde immer dominierender wurden. "Gerade topgesichert scheint die Festung nicht zu sein", hatte Kassandra gesagt und sofort blitzte das Warnlicht in Luzias Hirn. "Vielleicht ist das ja nicht nötig, die sollen doch todgefähliche Hunde hier laufen haben!" Kassandra lachte: "So lange es keine Löwen, Tiger oder Bären sind!" Dann hielt sie Luzia ein kleines, graues Kästchen hin: "Da, nimm auch eins – hält dir jeden Bluthund vom Leibe!" Luzia betrachtete das Gerät und drückte vorsichtig die eine Taste. Ein rotes Lämpchen glühte, aber sonst geschah nichts. "Sendet einen ekelhaft hohen Ton aus, den du nicht hören kannst, den aber selbst die gefrässigsten Hunde nicht ertragen! Du bist für sie einfach nicht mehr vorhanden, sobald du diese Taste drückst. Leider", fügte sie an, "wird uns das im Hause selbst nicht mehr viel helfen, fürchte ich!" Wie recht sie damit hatte, konnte aber selbst Kassandra in diesem Moment nicht ahnen!

 

Trotz des Kästchens war Luzia darauf gefasst, dass unvermittelt aus den dichten Büschen eine schwarze Bestie schiessen würde und ihre scharfen Reiszähne in ihre Waden oder noch weit empfindlichere Körperteile schlagen würde, bevor sie auch nur an die Taste herankäme. Aber es blieb alles ruhig, fast zu ruhig, schien es Luzia.

 

Der geschwungene Fahrweg endete vor einer grossen Freitreppe, die zu einer zweiflügeligen riesigen Türe führte, vor der links und rechts zwei grosse Skulpturen Wache hielten. Die Skulpturen waren aber aus Sandstein gehauen und nicht aus irgendeinem Metall gegossen und sie stellten durchaus realistisch gehaltene Löwen dar. Das Ganze machte wirklich fast den Eindruck eines echten Schlosses. Neben der Türe hing an einer Kette ein geschmiedeter Handgriff, hingegen war nirgends eine Klingel oder eine Gegensprechanlage oder was immer man an moderner Sicherungsanlage erwartet hatte, zu sehen.

 

Kassandra zog entschlossen an dem Griff: "Fast wie anno dannzumal – jetzt kommt sicher gleich Johann!" Im selben Moment, als hätte jemand dahinter gewartet, schoss es Luzia durch den Kopf, öffente sich der eine der schweren Flügel einen Spalt breit und wie das Knarren von rostigem Metall fragte eine rauhe Stimme, was man wolle. Knapp und undeutlich sah man ein Gesicht mit bitteren Falten um stechig schwarze Augen und strähnig schwarzem Haar. "Wenn das die Miss Unviersum ist," murmelte Luzia, "ist das Universum älter, als ich dachte." Kassandras Augen blinkten kurz warnend aber auch ein wenig amüsiert auf und wieder einmal fühlte sich Luzia auf seltsam vertraute Art zu der Freundin gehörig. Sie funktionierten wirklich wie eine Einheit.

 

4

"Frau Stengele?" fragte Kassandra mit dem hellen, gemacht-freundlichen Unterton, der Luzia bei gewissen Moderatorinnen von Lokalfernsehsendern auf den Wecker ging. "Ist nicht da", knurrte das Schattengesicht und schon wurde der Türspalt kleiner – aber ganz schloss sich die Türe nicht, denn sofort war Kassandras Fuss nach vorn gerutscht und hatte sich vor den Türflügel geschoben. "Und Herr Stengele?" "Auch nicht. Niemand da. Wir kaufen nichts!" Kassandra hat den Ton wirklich gut drauf, dachte Luzia bewundernd. "Wir wollen auch gar nichts verkaufen," jubelte sie jetzt förmlich, "mein Name ist nämlich Franziska Gut von der Wochen-Illustrierten und das ist meine Fotografin Vera Hummel! Wir machen eine Reportage zum Thema "Wohnen im Schloss" und sind bei Herrn Stengele schon länger für heute angemeldet, damit wir uns – "

 

"Bei uns gibt’s nichts zu sehen – tschüss!" röhrte die Stimme und wieder drückte der Türflügel gegen Kassandras Schuh. Es ging noch ein wenig hin und her, eine Visitenkarte wurde in den Spalt geschoben – woher zum Teufel hat sie denn die nun so auf die Schnelle, fragte sich Luzia – und schliesslich liess sich die Hausverwalterin oder was immer das Wesen für eine Funktion hatte, dazu herab, die beiden Frauen wenigstens in den Vorraum eintreten zu lassen. Man solle warten, brummte sie gehässig, sie müsse schauen, ob sie jemanden finde. Und schon klickte im Hintergrund eine Tür.

 

"Es ist die aus dem Stadtcafé", sagte Kassandra und begann, in dem Raum herumzustöbern. Er hatte die Ausmasse einer mittleren Turnhalle und es standen eine Menge alter Möbel herum. Aber Kassandra steuerte fast sofort gegen den Hintergrund des Raumes. "Siehst du!" hörte Luzia ihre Stimme, der man die unterdrückte Erregung anmerkte, "hab ichs doch gewusst!" Luzia tappte vorsichtig in das Dämmerlicht des Hintergrundes und sah eine Gruppe von Skulpturen, auf die Kassandra deutete: "Falsche Albertinis! Jede Menge! Ich hatte also recht!" Luzia zog die Kamera hoch und wollte gerade abdrücken, aber da krachte wie eine Granate wieder die Stimme dazwischen: "Hier drin wird nicht ohne Erlaubnis fotographiert!" Das Hausfaktotum war lautlos direkt hinter sie getreten. Die Kamera fiel zu Boden und kullerte mitten in die Stauten. Die dürre Gestalt vertrat Luzia den Weg dazu und zischte gehässig: "Mitkommen! Herr Stengele hat ein paar Minuten Zeit, wenn es unbedingt sein muss. Aber fotografiert wird nicht. Und Ihr Plunder wird bei der Garderobe deponiert!" Ihr Bleistiftnase wies zu einer Truhe neben der seitlichen Türe.

 

Kassandra und Luzia blickten sich an, dann zuckte Kassandra mit den Schultern und sie deponierten ihre Taschen und Jacken auf dem antiken Möbel. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass wirklich alles abgelegt war, wandte sich die Hagere um und ging durch die Tür. Kassandra schnappte sich blitzschnell ihre Tasche und hielt sich dicht hinter Luzia, als sie ebenfalls durch die Tür traten.

 

Die Aufpasserin stakte voraus durch den Korridor, der nur aus kahlen Sandsteinwänden bestand. Lückenlos gefugt. Noch ahnten sie nicht, dass dieser Anblick sie bald zur Verzweiflung bringen würde. Sie folgten dem wehenden, giftgelben Schal, der eine schreiendlila Bluse umwehte, die wiederum in eine flower-power-blumige Röhrchenjeans gestopft war und von einem Stoffgürtel mit aufgestickten, grellfarbigen Regenbogenperlen noch zusätzlich eingeschnürt wurde. Die Stimme der Giftspukerin passte genau zu den schreienden Farben ihrer Kleidung und zum staksigen Stechschritt, in dem sie über Treppen hinauf und hinunterhastete. Kassandra deutete ab und an stumm mit dem Kopf auf die Statuen, die überall in Nischen und Ecken standen, verzerrte, irgendwie höhnische Figuren in unterschiedlichen Grau-, Schwarz- und Metalltönen. Albertinis, dachte Luzia, wahrscheinlich alle gefälscht.

 

Kassandra hatte schon mehrmals den Eindruck gehabt, dass sie an den gleichen Stellen vorbeikamen wie kurz zuvor und sie wollte gerade ihre Zweifel äussern, als die Grellfarbene plötzlich eine Türe öffnete und sie in eine Art Bibliothek eintreten liess. "Moment warten," röhrte sie, "der Herr Stengele kommt gleich!" Dann klappte die Türe zu. Luzia war es, als höre sie ein Einrasten. Wieder blickten sich die beiden an, dann drückte Kassandra die Klinke und versuchte, die Türe zu öffnen. Sie liess sich keinen Millimeter bewegen.

 

5

Kassandra blickte Luzia an. "Wie die billigsten Anfänger!" sagte sie und es sei doch nicht zu glauben, wie man immer und immer wieder auf die einfachsten Tricks hereinfalle. Eben sei sie überzeugt gewesen, dass man sie im Kreis führe und sie habe gedacht, man schmeisse sie einfach an einer mehr oder weniger günstigen Stelle raus. "Aber die sind härter als ich dachte," fügte sie an, "wir müssen uns vorsehen!" Luzia fand, dass diese Einsicht etwas spät komme und blickte sich in dem Raum um: Eingebaute Regale in kunstvoller Schnitzerei zogen sich den Wänden entlang. Sie waren leer bis auf wenige, in denen Statuen in der nun bereits bekannten Art standen und an der einen Seite wurden sie durch Fenster unterbrochen, die mit einer milchigen Folie überklebt waren, die sie undurchsichtig machten. Und öffnen liessen sie sich auch nicht, davon hatte sich Kassandra mit ein paar schnellen Prüfgriffen überzeugt. Dann wieder die Türe. Aber sie war massiv und das Schloss war kunstvoll ohne jede Schraube im Holz eingelassen. Und wo nicht Fenster oder Regale die Wände bildeten, trat das bekannte, fugendichte Sandsteinmauerwerk hervor.

 

Kassandra hatte schliesslich die Rauminspektion abgeschlossen. "Dicht wie im Hochsicherheitstrakt", sagte sie, setzte sich auf das Fensterbrett und zog ihr Handy aus dem seitlichen Fach der Tasche. "Empfang auch tot, "konstatierte sie selbstverständlich. Luzia ging unruhig in dem Raum herum und zuckte immer wieder zurück: In Nischen und Ecken lauerten überall Statuen. "Was soll den jetzt geschehen?" fragte sie mit einem leisen Zittern in der Stimme. "Na ja," sagte Kassandra, "irgendein teuflischer Trick. Gas oder so. Und in einer Woche findet man uns, Todesursache unbekannt. Gas kann man fast nicht nachweisen." Aus den Ecken kroch die Angst heran, eine lähmende, benebelnde Angst und es schien Luzia, als rückten die Statuen Schrittchen für Schrittchen näher, als würden sie die Luft immer dumpfer zusammenpressen.

 

Luzia begann zu keuchen: "Das denkst du nicht wirklich, ja?" "Warum nicht?" Kassandras Stimme blieb vollkommen gleichmütig. "Es steht zuviel auf dem Spiel, die verdienen sich dumm und dämlich mit den schmutzigen Albertinis! Und wir platzen da einfach so rein! Man könnte uns doch einfach hier vergessen, zwei, drei Tage. Nichts essen, nichts trinken. Wie lange kann ein Mensch überleben ohne zu trinken?" Luzias Hände begannen zu zittern: "Hör auf! Das liest man nur in Krimis oder sieht es in Filmen! Das passiert doch in Wirklichkeit nicht!" Kassandra zuckte die Schultern und wies auf die Figuren:"Wir wissen nun wirklich zu viel, da lässt man uns kaum ungeschoren. Vielleicht haben wir aber auch Glück und sie hauen demnächst ab. Ich frag mich nur – " Sie horchte auf und hielt Luzia, die gerade eine der Statuen packen wollte, um die Scheiben einzuschlagen, am Arm zurück. Die Dämmerung hatte den Raum fast aufgefressen, obwohl es noch nicht später Abend war. An den Fenstern klirrten Windböen. "Ein Gewitter," dachte Luzia, da öffnete sich mit einem harten Knall oben im Fenster ein Glasflügel, der Sturm heulte kurz auf, ein grelles Licht zuckte, dem fast zeigleich ein Donnerschlag folge und ein Regenschauer prasselte durch den Raum. Es wurde nachtdunkel.

 

Kassandra liess den Arm von Luzia los und ging aufs Fenster zu: "Sieh mal einer an, doch nicht ganz dicht, das Gefängnis!" Dann bedeutete sie Luzia, die Statue wieder hinzustellen: "Keine unüberlegten Handlungen!" sagte sie, " eine Menge Unglück auf der Welt könnte vermieden werden, wenn die Menschen zuerst denken würden, bevor sie handeln!" Sie zog aus dem Seitenfach der Tasche einen kleinen Notizblock, bekritzelte eines der Zettelchen, riss es ab und öffnete das Hauptfach der Tasche. Eine Katze maunzte.

 

"Katerchen!" rief Luzia und starrte benommen auf die Tasche. "Genau," sagte Kassandra, "mein zweiter Assistent! Hat sich wunderbar gehalten bis jetzt!" Katerchen, ein dreijähriger Tigerkater, sprang aus der Tasche, drehte sich auf Kassandras Schoss ein paar Mal um die eigene Achse und leckte sein prächtiges Fell zurecht. Er habe mehr Verstand und Spürsinn als jeder Polizeibeamte vom Gefreiten an aufwärts, behauptete Kassandra jeweils und das hatte Katerchen in der Tat schon mehrmals bewiesen.

 

Auch heute hatte er sich tadellos verhalten und Kassandra kramte aus der Seitentasche ein Belohnungshäppchen, als man an der Türe ein Kratzen vernahm. Sofort huschte Katerchen wieder in die Tasche. Kassandra sprang auf, packte einen der kleineren Albertinis und stellte sich neben die Türe. Der Schlüssel drehte und die Türe öffnete sich gerade soweit, dass ein Servierwagen hindurchrasseln konnte. Für Augenblicke sah man eine Hand mit sechs riesigen, schreiendfarbenen Fingerringen. "Tee – hat noch niemand Zeit – warten" kreischte die Stimme und schon fiel die Türe wieder ins Schloss.

 

6

Kassandra wog die Statue noch einen Augenblick in den Händen und warf sie dann in eine entfernte Ecke. "Mist! Ich bin nicht mehr schnell genug! Wahrscheinlich müsste ich doch wieder regelmässig ins Fitness!" Sie hatte die Tasche geöffnet und Katerchen sprang diesmal zu Boden! Kassandra riss einige Papiertaschentücher aus der Packung und schob das bekritzelte Papierchen hinein. Katerchen hielt sich schon bereit und Kassandra klemmte das kleine Paket in sein Halsband. "So, und nun hopp ab zu Sabine, zu Binchen! Wir brauchen hier wohl ein, zwei Hände mehr, sogar wenn sie in Uniformen stecken!" Katerchen flitzte rund um den Raum, sprang dann die Regale hoch und hopp, schon war er oben durch das Klappfensterchen verschwunden.

 

"Wollen hoffe, dass der Herr Polizeigeneral nicht in Formalismus verfällt und sich ein wenig beeilt, wer weiss, wie lange die hier noch Geduld haben mit uns!" Kassandra wollte sich aufs Fensterbrett hiefen, brach aber die Bewegung plötzlich ab, hechtete quer durch den Raum gegen den Servierwagen und schlug Luzia die Tasse aus der Hand, die sie soeben zum Mund geführt hatte. Der heisse Tee sprühzischte über Kleider, Haut und Steinfliesen. Luzia war vor Schreck hart gegen die Heizungsrohre in ihrem Rücken gebumst. Sie starrte Kassandra entsetzt an. Ob sie nicht ganz gescheuert sei, wütete diese, ob sie noch immer nicht begriffen habe und ob sie ihren verdammten Teefimmel nicht einmal in einer solchen Scheisssituation bezwingen könne. Denn genau so, wie Kassandra von harten Espressos lebte, war Luzia

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