Scherben

 

Die Bierpfütze auf dem Tisch: Er fingerte darin herum, zog, zerrte die Pfütze länger und länger. Vielleicht war das der Anfang. Wer kannte sich schon aus in dem Kuddelmuddel da oben im Kopf! Vielleicht begann es auch mit einem Wort vom Nebentisch, wo der Männerchor sass, mit einem Plirren vom Buffet her, wo Doris Gläser sortierte, oder mit dem warmen Wind, der von draussen in die Gaststube drückte, immer wieder die Türe scheppern liess. Ja, am ehesten der Wind. Damit hatte es wohl angefangen oder vielmehr mit dem Bild, das sich hervorhob aus dem Wirrwarr: Eine Fahne, die im Wind knattert und Wasser und flaches Land, gescheuerte Planken und ein leichter Dieselduft.

Dabei war das doch alles längst vorbei. Versunken hinter dem Horizont der Wüste, zu der sein Alltag verkommen war. Graue felsige Wüste mit einem einsamen Haus mittendrin: Der Bären. Er grinste. Doris, ein Bier! Der Indianer kam ihm in den Sinn, von dem er mal gelesen hatte, der Indianer, den die Entdecker damals auf ihrem Schiff nach Europa brachten und als Kuriosität ausstellten. Er war dann eingegangen, kümmerlich verendet. Seltsame Dinge entstehen in diesem Durcheinander da oben, im Kopf: Er war ja kein Indianer! Nicht verpflanzt, nicht entführt, nicht ausgestellt - jedenfalls nicht wie der Rote damals, nicht so. Und doch!

Das Bier war nicht schuld daran, dass er alles so stechend klar sah. Er war schliesslich erst beim dritten angelangt. Einen Beruf, Sigi, zuerst musst du einen Beruf erlernen. „Müssen“, sagten sie. Doris, ein Bier! Er hatte gehorcht. Eine Werkstatt, feilen, drehen, was noch alles sonst. Hatte seinen Abschluss gemacht, mehr schlecht als recht, und gerade da war Elisabeth aufgetaucht, Augen mit winzigen, blauen Pfützen auf sandigem Grund, in dem goldene Flitterchen glänzten, so, wie wenn man in klares Wasser blickt. Wie man von Bord eines Schiffes ins Wasser blickt.

Wie damals im Sommer. Vielleicht hatte ihn überhaupt nur diese unbewusste Erinnerung zu dem Mädchen hingezogen. Die Erinnerung an jenen Sommer beim alten Werther auf dem Schiff, die Stadt, die am Abend hinter dem Wasser versinkt, zwei Ufer, zwischen denen man in die Nacht abhebt, die Positionslichter - Doris, ein Bier!

Wo hatte dieser verdammte Gedanke gewartet, warum hatte er sich versteckt, damals, als er hätte reingucken sollen in den Alltag, als Sigi noch nicht jeden Abend über die Drecksebene in den Bären getrottet war? Aber wer findet sich schon zurecht in diesem Kuddelmuddel da oben! Es war eben viel anderes herumgezogen dort oben, Geld, der Job, die Karre, eine Wohnung, ein paar glänzende Worte. Die Vorführungen vor den Lehrlingen, die Pressefritzen an der neuen Drehbank, Vorarbeiter Sigi bei der Fertigung des Prototypen! Er fingerte in der Brieftasche: Der Artikel, die Foto, einer im Blaumann, grinsend. Und auf der Tischplatte der Fluss, die Pfütze, in die Länge gezogen. Das Zeitungspapier saugt, frisst sie weg und das Papier zerfliesst, zermantscht, Papier und Pfütze ein grauer Klumpen und der Wind drückt durch die Eingangstüre. Ob der alte Werther noch fährt?

Wenn er gehen würde, morgen schon? Er sei zufrieden mit ihm, hatte Werther gesagt am Ende jenes Sommers, sehr zufrieden und er solle es sich überlegen. Vielleicht hatte er ja nun genug überlegt. Wenn er also ginge? Was war das alles: Elisabeth, die Wohnung, Kinder, das Geld, die Pensionskasse - ein warmer Windstoss, weg. Wenn er gehen würde! Das Kuddelmuddel im Kopf. Ein Bier, ein Bier bestellen. Und wenn er an Bord wäre, wenn sie in einer Schleuse liegen würden oder in einem der kleineren Häfen, dann würde er hinunter schauen zum Grund, zwischen wasserblauen Flecken hindurch den Sand anschauen, in dem immer goldene Flitterchen glänzten, die Augen.

Vielleicht fuhr ja Werther noch! Er würde nachfragen, er würde sich erkundigen und er würde aufstehen jetzt, ganz ruhig würde er es sagen: Doris - zahlen! Und drüben, hinterm Buffet, würde ein Bierglas zerschellen auf den Fliesen.

 

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