Papa Pissoir (Stauffacher)

"Ich will nicht sagen, dass er nur selber schuld war, aber - " Wie ich den Kerl verabscheue, den sauberen Beamten in dem schwarzen Kittel, der da auf dem Damm steht und sich wichtig macht. Amtsvorsteher Lange, Doktor Lange, der sich aufplustert, im Vordergrund posiert, und dabei gar nicht hierher gehört, nicht auf diesen Damm neben das Wehr, nicht neben den Körper, der da bei dem rostigen Gestänge der Winde liegt.

 

Es war ja schliesslich unsere Arbeit gewesen, ihn rauszufischen, nachdem dieser Hündeler angerufen hatte, auf dem örtlichen Posten, in aller Frühe gemeldet hatte, dass etwas wie ein Körper im Rechen des Wehres hänge und wir hatten sofort erkannt, um wen es sich handelte, gleich, als wir ihn aus dem Treibgut rausgepuhlt hatten: Einen von der Gasse, obdachlos, unterwegs zwischen hier und dort, ohne dass man rauskriegen konnte, wer er eigentlich war. Aber ein Harmloser. 'Papa' nannten sie ihn unter ihresgleichen, vielleicht wegen seinem Alter - oder wegen der weissen Haarmähne. Ein Ruhiger, gab kaum je Anlass einzuschreiten. Bis zu diesem Sommer.

 

Und darum auch war wohl Lange jetzt hier aufgetaucht. Weiss der Teufel, woher er Wind bekommen hatte davon, von uns jedenfalls nicht, das würde ich beschwören, also wohl von der Presse, die natürlich sofort dagewesen war, die Regionalen zuerst, dann aber auch die Städtischen und Lange durfte sich also wichtig machen, hier auf dem Damm, wo der Wind vom See her auffrischte, die Pappen lispeln liess, diese geschwätzigen Geschichtenerzählerinnen, denen ich schon bei so manchem Nachteinsatz gelauscht hatte, um mir die Zeit zu vertreiben. Nie vergeht die Zeit so schnell wie dann, wenn man den Pappeln zuhören kann.

Aber jetzt war es schon Vormittag geworden und von der Hauptstrasse her dröhnte Verkehrslärm herüber, irgendwo röhrte ein Presslufthammer und der Wind riss Lange die Worte von den Lippen, so dass ich sie nicht mehr zu hören brauchte und ich musste mir auch nicht die Journalisten ansehen, die eifrig kritzelten oder ihre kleinen Aufnahmegeräte überwachten.

 

Im Frühsommer hatte es begonnen, an einem der ersten Tage, an denen es wirklich warm gewesen war, jene Art von angenehmer Wärme, die einen behaglich einhüllt und man öffnet die Fenster und kann sich so gar nicht mit dem Schreibkram befreunden. Die Art von Wärme, sagte Werner am Schreibtisch nebenan, die einem ganz sicher auf die mieseste Art verdorben wird. Er bekam recht: Gegen Mittag stürzte eine Dame in unser Büro, ohne sich anzumelden, so als sei ihr eine ganze Meute auf den Fersen, und sie legte sogleich los in einem Tempo, dem wir vorerst nicht gewachsen waren. Sie sah ganz so aus, wie die Ehefrau von jemand Wichtigem und so war es auch. Werner, der die Verhältnisse in der Stadt besser kannte, schob mir einen Zettel zu mit dem Namen eines Politikers, der gerade im Augenblick sehr in Mode war.

 

Wir konnten aus dem Redefluss der wichtigen Ehefrau mit Mühe in groben Zügen den Grund ihrer Aufregung erahnen: Offenbar, so verstanden wir, logierte in ihrem Wohnbezirk neuerdings in einer jener vergessenen Bedürfnisanstalten, die seit langem geschlossen sind, ein Mann. 'Logiert', sagte sie wirklich und 'entsetzlich' und gab sich sehr Mühe, zu erschauern. Wir wollten wissen, ob denn Ärger entstanden sei, ob der Mann beispielsweise Passanten belästige oder Ähnliches, aber sie brauste sofort auf, beschrieb die Zustände, die zwar noch nicht, aber mit Sicherheit bald und so weiter, liess 'das Gesindel' sich ausbreiten über das ganze Stadtgebiet und diese, ihre schöne Stadt, ganz und gar mit Haut und Haar untergehen. "Ein Mann", sagte sie theatralisch, " ein Mann einfach so in einem Pissoir!" Ich konnte ein Lachen nicht verhindern, schon Werners todernster Miene wegen und das war der Funken am Pulverfass. Sie machte brüsk kehrt, knallte die Türe zu und eine Viertelstunde später wurde ich zum Amtsvorsteher zitiert.

 

Darum also nahmen wir uns der Sache an. Nicht mit Blaulicht und Sirene, zugegeben, aber doch immerhin. Wir fanden tatsächlich einen vor, dort draussen, eben den Alten, den wir von der Gasse kannten, den man 'Papa' nannte, auch bei uns auf dem Posten und in der Zentrale. Er sass auf einem Stuhl in dieser ersten warmen Sommersonne und hatte die Augen geschlossen, döste vielleicht, so dass wir uns zuerst genauer umschauen konnten. Da war der Gehsteig zur Ausfallstrasse hin, auf der es trotz Wärme und Sonne tobte und röhrte. Der Asphalt des Gehsteiges war sauber, wie gefegt und das zog sich hin zu der schäbigen Fassade, die in eine der alten, aus Bruchsteinen gebauten Stützmauern eingefügt war und von der Werner sagte, dass schon er als Schuljunge drangepinkelt habe, weil doch oben in altmodischer Schnörkelschrift 'Pissoir' angeschrieben stand, die Türe jedoch immer abgeschlossen war. Jetzt stand sie offen, sie wirkte sehr neu und es roch auch wirklich ganz leicht nach Farbe, so dass Werner nicht widerstehen konnte und sie antupfen wollte. "Vorsicht", brummte da der Alte, "ganz frisch!" Wir standen also und wussten erst gar nicht, was jetzt zu tun sei, auch als uns der Alte mit einer Handbewegung zur Besichtigung einlud.

 

Alles war aufs Sauberste hergerichtet, es gab einen Tisch mit einem hellen Tischtuch und in einer der Nischen, die wohl für Putzgeräte gedacht waren, hatte sich der Alte was Gemütliches als Schlafplatz hergerichtet. Weiter sagte Papa während unseres Besuches nichts, er schien die Fragen, die wir zu stellen hatten, nicht zu hören. Das kannten wir und trotzdem mussten wir es wohl auch diesmal durchziehen, es war schon dutzende Male im Büro nicht anders gelaufen.

 

Und allmählich amüsierte uns das Ganze, damals amüsierte es uns erstmal und ich kann das bloss dieser Wärme zuschreiben, dieser verfluchten Frühlingswärme, die uns wohl auch einlullte, denn wir mokierten uns noch im Zurückgehen über den Mann mit dem wichtigen Namen, der seine Dame herschickt, weil am Hügelfuss unter seiner Villa ein Mann in ein Pissoir geht, von niemandem beachtet sonst, denn auf der Strasse unmittelbar davor herrscht der verbissene Kampf, und auch das amüsierte uns und ich glaube, wir tranken sogar ein Bier auf dem Rückweg, das erste Bier des Jahres im Freien.

 

Und ich kann es gar nicht verstehen, jetzt hier auf dem Damm neben dem Wehr, vor dem Körper und im Wind, der die Pappeln erzählen lässt, kann ich nicht verstehen, dass wir nicht wussten, nicht ahnten, was im Herbst kommen würde. Wir hatten ja den Rapport sauber verfasst, so, wie wir es immer tun: Einer den Entwurf, der andere verfeinert und tippt ins Reine. Dann war die Wärme vorbei, man fror den ganzen Sommer lang in tagelangem Regen und vielleicht auch darum achteten wir zuwenig auf die Gerüchte, die auftauchten, in den Kaffeepausen, auf den Korridoren und weder Werner noch ich bemerkten, dass Verschiedenes verstummte, wenn wir eintraten, uns näherten, zu gewissen Gruppen stiessen.

 

Wir hatten uns ja nicht unfreundlich über den Alten geäussert, hatten in dem Rapport festgehalten, wie positiv sich die öffentliche Bedürfnisanstalt entwickelt habe und hatten wohl auch das eine oder andere Mal im Gespräch bemerkt, dass man eigentlich auf dieselbe Art in der Stadt noch vieles verbessern könnte. Wir waren wohl mit Blindheit geschlagen: Wir hatten ja die Dame erlebt. Und wir wussten doch, was Leute mit momentan populärem Namen ihrer Volkstümlichkeit schuldig sind. Und wir hatten doch gesehen, dass sich das Ganze ausgedehnt hatte, bei unseren Besuchen bei dem Alten, dass allmählich nicht nur seine Kumpels von der Gasse dort ein und aus gingen, sich zu einem Kaffee niederliessen, sondern dass schon die halbe Stadt bei ihm verkehrte, auch wichtigere Leute als wir und wir selbst hatten den Namen aufgenommen, den ihm seine Kundschaft im Verlaufe dieses unerfreulichen Sommers gegeben hatte: Papa Pissoir.

 

Und doch trafen uns vor zwei Wochen die Zeitungsmeldungen wie ein Keulenschlag: "Schandfleck endlich weg!" hiess es da oder gar "Räuberhöhle ausgeräuchert" und es waren alle die Gerüchte von gestohlenem Material und von zwielichtigen Gestalten mundgerecht aufbereitet. Und wir selbst wussten ja, dass er sich die Dinge am Strassenrand geholt hatte, in den Schuttmulden und es gab jene, immer mehr waren es gewesen, die ihm die Dinge gebracht hatten, jene, die jetzt in den Trendlokalen hinter den Zeitungen hocken und schweigen.

 

Und wir waren so vor den Kopf geschlagen, dass auch wir uns nicht äusserten in diesen ersten Tagen und als wir erfuhren, dass der Alte nicht aufzufinden sei, fanden wir es nicht mehr nötig zu sprechen, ja, wir freuten uns sogar und stellten uns vor, dass er an einem andern Ort, in einer andern Stadt -

 

Und jetzt stehen wir da auf dem Damm im Wind, der vom See her auffrischt, und der Körper liegt dort bei der rostigen Winde, wir haben ihn rausgefischt heute morgen und erst jetzt wissen wir, plötzlich sehen wir, dass es diesen andern Ort nicht gibt, diese andere Stadt.

 

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